Geschwister im Konflikt
Eine Alltagsuntersuchung einer Familie in Dassantch, Südäthiopien
Einleitung
Der vorliegende Text ist Teilprodukt eines multimedialen Projektes, welches soziale Konflikte in Dassanetch, Süd Äthiopien beschreibt. Das andere Produkt ist der Film Siblings in Conflict auf den ich mich in dieser Arbeit beziehe. Der geschriebene Teil ist eine Analyse des filmischen Materials. Das im Film Sichtbare wird beschrieben und theoretisch eingeordnet. Der Text stellt jedoch mehr als nur eine Analyse dar. Die Entstehungsgeschichten des Filmischen und des Schriftlichen sind eng miteinander verwoben. Bevor ich die ersten Filmaufnahmen gemacht habe, erstellte ich bereits Notizen über die Thematik und Funktion des Textes. Ebenso wie das im Film Sichtbare die Entwicklung des Textes beflügelt hat, so hat auch die Entstehung des Textes die Form des Filmes beeinflusst.
Meine Intention ist es, dass der Leser die beiden Teilprodukte als unterschiedliche Wege ansieht, über dasselbe Thema zu berichten: den sozialen Konflikt in Dassanetch. Der Film vermittelt vor allem durch seine Qualität der Veranschaulichung Aspekte der Konfliktaustragung. Film vermag durch seine veranschaulichende Natur stärker eine affektive Nähe zur Thematik aufzubauen. Das schriftliche Medium hat die Qualität Rationales präzise vermitteln zu können. Mit dem geschriebenen Wort versuche ich, nichtvisuelle Überlegungen über Konfliktsituationen zu fassen. Durch den Gebrauch beider Medien sollen diese und andere Vorteile des Textes und des Filmes ausgenutzt werden.
Den vorliegenden Text habe ich wie folgt strukturiert. Ich beginne im ersten Teil mit einer wissenschaftlichen Einordnung der Dassanetch. Diese fällt jedoch knapp aus und besteht vor allem aus Verweisen auf die existierende Fachliteratur. Nur einzelne Aspekte, die für das Verständnis dieses Projektes unentbehrlich sind, werden detailliert dargestellt. Der zweite Teil beschreibt das Umfeld, in welchem ich meine Forschung durchführte. Dabei gehe ich zum einen auf den Ort, als auch auf die Personen ein. Der dritte Teil befasst sich mit den Hintergründen der Forschung. Hier erwähne ich zum Zwecke der Transparenz, Entwicklungen während des Entstehungsprozesses. Der vierte Teil besteht aus einer konflikttheoretischen Abhandlung. Dort definiere ich die bedeutendsten Begriffe, gehe auf wesentliche Debatten innerhalb der Konflikttheorie ein und erläutere acht Thesen, die ich dann im fünften Teil hinterfrage. Bei der Hinterfragung verweise ich zum einen auf das im Film Sichtbare als auch auf Hintergrundinformationen und zusätzliches Filmmaterial. Abschließend fasse ich die Auseinandersetzung mit der Thematik sowie die Charakteristika der Multimedialität zusammen.
Verweise auf die Dassanetch in der Fachliteratur
Dieses Kapitel soll eine knappe wissenschaftliche Einordnung der Dassanetch liefern. Ich werde den Leser dabei primär auf die bestehende Literatur verweisen und nur die Dinge hervorheben, die für das Verständnis des Filmes und des vorliegenden Textes unentbehrlich sind.
Erstmals wurde das Land der Dassanetch von Ludwig von Höhnel und seinem Begleiter Samuel Teleki im Jahr 1888 von Europäern bereist. (von Höhnel 1894) In den darauf folgenden Jahrzehnten erreichten immer wieder Reisende das Land der Dassanetch. Die Berichte über diese Reisen sind jedoch knapp und nicht primär wissenschaftlich orientiert. Einen großen Sprung stellten dann in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Forschungen der Geografin Claudia Carr und dem Ethnologen Uri Almagor dar. Carr (1977) studierte ausführlich die Beziehung der Dassanetch zu ihrem Lebensraum. Basierend auf eigenen Forschungen und den Arbeiten von Karl W. Butzer (1971) beschreibt sie die Auswirkungen des wirtschaftlichen Lebens auf die natürliche Umwelt in dem Buch Pastoralism in Crisis. Zudem liefert sie einen Überblick über die soziale Organisation der Dassanetch. Über Letzteres berichtet Almagor (1978) detailliert in seinem Werk Pastoral Partners. Er beschreibt die große Bandbreite an Beziehungsmöglichkeiten sowie soziale Unterteilungen der Dassanetch. Almagor publizierte zudem weitere Texte, die ähnliche Themenkreise behandeln, von denen die meisten in der Literaturliste angegeben sind. Die Geschichte der Dassanetch und anderer Gruppen der Region beschreibt Neal Sobania (1980) . Er fasst basierend auf Erzählungen die Herkunft der Dassanetch zusammen. Die Linguisten Hans Jürgen Sasse (1974) und Mauro Tosco (2001) beschreiben die Sprache der Dassanetch. Bei den Dassanetch, die ich kennen lernte, ist vor allem der Ethnologe Yvan Houteman bekannt, da er in unmittelbarer Nähe viele Monate lebte. Bis zum heutigen Zeitpunkt ist jedoch noch keine Publikation von ihm über die Dassanetch verfügbar. Er berichte jedoch in dem Film De Dassanetch von Didier Schepens (2003) über das Dimi Ritual, welches einer der wichtigsten Momente im Leben eines Dassanetch Mannes ist, da er dadurch in den Kreis der Ältesten aufgenommen wird. Bei meinen Reisen nach Dassanetch wurde mir vermehrt von jungen Studenten berichtet, die in der Region Forschung betreiben. Peggy Elfmann (2004) verfasste kürzlich ihre Magisterarbeit zu der Welt der Frauen in Dassanetch. Diese Arbeit basierent auf ihren Aufenthalten bei der gleichen Familie, in der ich forschte.
Raum und Leben im Raum
Lebensraum
Durch das Land der Dassanetch fließt der Omofluss, welcher in den Turkanasee mündet. Dadurch haben die Dassanetch permanent Zugang zu Wasser und können die Schwankungen des Flusses ausnutzen, um Felder entlang des Flussbettes und in der Deltaregion anzulegen. Je weiter man sich vom Fluss entfernt, desto trockener und kahler wird das Erscheinungsbild der Landschaft. Im Landesinneren wachsen nur wenige Pflanzenarten, was zu einer wüstenartigen Umgebung führt. In einem Jahr finden zwei unregelmäßige Regenzeiten statt. Die große (ir gudoh) ist meistens zwischen März und Mai, die kleine (ir nini) zwischen August und Oktober. Beide verschieben sich jedoch oder fallen in manchen Jahren ganz aus. Das flache Gebiet der Dassanetch liegt durchschnittlich auf einer Höhe von 375 m. Besonders kennzeichnend sind des Weiteren zwei äußere Bedingungen: Die Hitze und der Wind. Die geringe Vegetation führt unter anderem dazu, dass in der Hitze wenige natürliche Schattenplätze zur Verfügung stehen. Die pflanzliche Kargheit fördert zudem die Intensität der Staub führenden Winde. Während der trockenen Zeit des Jahres beginnen nahezu jeden Vormittag, Staubwolken durch das Land zu fegen. Diese halten an, bis die Sonne ihre Intensität verloren hat und das Land sich abkühlt.
Schon vor Jahrzehnten machte Carr (1977: 254ff.) darauf aufmerksam, dass der Lebensraum der Dassanetch degeneriert. Abholzung und Überweidung leisten einen Beitrag. Dazu kommt die wachsende Population und Landnutzungsverbote von Seiten der Regierung in ursprünglichen Teilen des Dassanetchlandes. Degnerierungsprozesse fielen mir sogar innerhalb der kurzen Zeit zwischen meinen Aufenthalten 2002 und 2004 auf. Die Dichte des Pflanzenwachstums in der Nähe des Flusses reduzierte sich sichtbar. Das Buschwerk in der Umgebung der Dörfer wurde zu großen Anteilen entfernt. Hinzu kommt die fortschreitende Erschließung des Gebietes mit Transportmitteln. Die LKW Fahrer kämpfen sich durch den lockeren Sandboden und verändern die Umgebung durch Anlegen breiter Wege. Ein solcher Weg führt nun quer durch das Dorf meiner Gastfamilie. Diese Strasse befahren tagtäglich mehrere Fahrzeuge. Die Dorfbewohner entschieden daher in naher Zukunft den Standpunkt der Häuser zu verlegen. Bei meinem ersten Aufenthalt im Jahr 2002 erreichten lediglich zwei Fahrzeuge das Dorf, indem ich fünf Wochen lebte: Ein Fahrzeug einer Tourismusorganisation und das Auto des Präsidenten von Süd Omo.
Wirtschaftsweise und Mobilität
Die Dassanetch ernähren sich hauptsächlich von den Produkten die sie anbauen (vor allem Hirse, Mais und Bohnen) und von den Produkten ihrer Herden (vor allem Ziegen, Rinder und Schafe) sowie von den Sachen, die sie auf dem Markt in Omorate erhandeln (vor allem Kaffee, Gewürze und Brot).
Besondere Bedeutung kommt den domestizierten Tieren zu. (Vgl. hierzu Carr 1977: 99) Viele Wertvorstellungen und Beziehungen werden durch Tiere etabliert und symbolisiert. Namen von Personen gehen auf Ziegen zurück, Bekanntschaften werden mit Abgaben von Tieren gepflegt oder erschaffen. Zu den Tieren entwickelt sein Besitzer eine Beziehung, die er mit Markierungen an dem Tier verdeutlicht. Das Fleisch und die Milch von den Haustieren sind hoch angesehene Nahrungsmittel. Ausgewählte Personen kümmern sich um die Herden und Felder, die teilweise Tagesmärsche entfernt von den Häusern positioniert sind. Unter bestimmten Umständen verändert auch die Wirtschaftseinheit als Ganzes seine räumliche Position. (Vgl. hierzu Carr 1977: 129ff.)
Umgebung der Forschung
Aoga besteht aus sechs Siedlungen, die teilweise außer Sichtweite voneinander sind. Das Dorf, indem ich forschte befindet sich drei Kilometer südlich von Omorate, der größten Stadt im Land der Dassanetch. Die Nähe zu der Stadt ermöglicht, dass die Bewohner häufig den sich dort befindenden Markt besuchen. Um Trinkwasser zu erhalten, gehen die Bewohner zu dem einhundert Meter entfernten Omofluss. Die Siedlung meiner Gastfamilie, für welche die Bewohner keine eigene Bezeichnung nennen, ist wie auf der Skizze Nummer Eins erkennbar in zwei Bereiche unterteilt. Obwohl ich mit allen Bewohnern der Siedlung Kontakt hatte, so ist die eigentliche Räumlichkeit der Forschung die Umgebung des Gehöftes meines Gastvaters. Skizze Nummer Zwei zeigt somit den speziellen Ort, an dem ich forschte und an dem nahezu alle Sequenzen des Filmes Siblings in Conflict gedreht wurden.
Skizze Nr. 1 : Die Siedlung in der ich forschte. Die Pfeile zeigen auf das Gehöft meiner Gastfamilie. 1) Haus 2) Speicher 3) Kral 4) Zickleinhaus
Skizze Nr. 2 Das Gehöft meiner Gastfamilie. 1) Nakwas Haus 2) Kidoas Haus 3) Mein Haus 4) Nakwas Speicher 5) Zickleinhaus 6) Kidoas Speicher 7) Kral
Meine Gastfamilie
Alle Hauptakteure des Filmes Siblings in Conflict sind Mitglieder einer Familie.
Nyabbanga (45), der Vater der Familie, ist einer der angesehensten Männer in der Umgebung. Auch die äthiopische Verwaltung bittet ihn oft um Unterstützung, um zwischen den Regierungsvertretern und den Dassanetch zu vermitteln.
Die min gudoh (Erstfrau, wörtlich: große Ehefrau) Nakwa (40) hat sieben Kinder. Der älteste Sohn, Loichama (16) und die zweitälteste Tochter, Kolochon (12) verbringen die meiste Zeit in den Feldern der Familie, die einen Tagesmarsch entfernt im Süden lokalisiert sind. Nakwas Söhne Karre (10) und Willie (8) übernehmen tagtäglich die Aufgabe des Hütens der Ziegen, die zum Zweck der Milchgewinnung im Dorf verbleiben. Nakwas älteste Tochter, Yendite (14), unterstützt Nakwa bei den häuslichen Aktivitäten sowie bei der Versorgung der jüngsten Kinder Ankoi (6), Arba Nech (4) und Nabario (1).
Kidoa (26) ist Nyabbangas min nini (Zweitfrau; wörtlich: kleine Ehefrau). Kidoa hat zwei Töchter: Noicho (4) und Nakwa tini (2). Aufgrund deren jungen Alters sind sie für Kidoas Haushalt noch keine große Hilfe, daher hilft besonders ihre Verwandte Nadjaout (16) bei den alltäglichen Aufgaben.
Beide Ehefrauen besitzen jeweils ein Haus. Auch ihre Arbeitsbereiche sind entsprechend getrennt. Sie pflanzen getrennt ihre Produkte an und haben getrennte Ansprüche auf die Milch der Ziegen der Familie. Dies ist auch den Kindern der Frauen bewusst, was ihr alltägliches Verhalten beeinflusst. Beispiele dafür liefert der Film und die Besprechung des Filmes weiter unten.
Projekthintergründe
Vorarbeiten
Für das Land Äthiopien interessiere ich mich seit dem Beginn meines Studiums in Mainz im Jahr 2000. Im Jahr 2001 und 2002 arbeitete ich zweimal für die GTZ in Zentraläthiopien. Dadurch erhielt ich auch die Möglichkeit die Region im Süden zu bereisen. Von da an wählte ich Südäthiopien als meinen regionalen Schwerpunkt. Seit Beginn meines Studiums beschäftigte ich mich zudem mit der Theorie und Geschichte des Dokumentarfilmes. Vorliegendes Produkt basiert somit auf einer mehrjährigen Vorbereitungsphase.
Im Jahr 2002 bereiste ich das erste Mal Dassanetch. Im Rahmen einer studentischen Exkursion unter der Leitung von Susanne Epple des Institutes für Ethnologie und Afrikastudien in Mainz verbrachte ich im August und September fünf Wochen bei der Gastfamilie, bei der ich auch für vorliegende Magisterarbeit meine Forschung ausgeübt habe. Während meines ersten Aufenthaltes konnte ich somit bereits Kontakte knüpfen und Beziehungen aufbauen, welche für die Forschung für diese Arbeit wichtig gewesen sind. Als ich im Jahr 2004 erneut zu meiner Gastfamilie reiste, wurde ich wieder aufgenommen, als wäre ich nie weg gewesen. Für meine filmische Arbeit war es besonders bedeutend, dass ich zu Beginn meines zweiten Aufenthaltes den Film Doors Wide Open vorführte. Das für diesen Film zugrunde liegende Material filmte ich während meines Aufenthaltes im Jahr 2002. Meine Gasteltern und Gastgeschwister konnten durch das Sichten des Filmes erkennen, was die Resultate meiner Arbeit mit ihnen sind.
Aufenthalte und Sprache
In der Zeit von April bis Juli 2004 bereiste ich Dassanetch für insgesamt acht Wochen. Ich blieb im Durchschnitt zwei Wochen vor Ort. Dazwischen arbeitete ich am South Omo Research Center in Jinka. Die meiste Zeit war ich ohne Begleiter in Dassanetch. Nur die ersten und letzten Tage half mir Gino Loshere, ein 15 jähriger Schüler aus Turmi, bei der Übersetzung. Die Dauer der Aufenthalte reichte nicht aus, um die Sprache der Dassanetch gut zu lernen. Alltägliche Konversationen waren vor allem mit mir nahe stehenden Personen möglich. Abstrakte Gedankengänge konnte ich jedoch nur mit Schwierigkeiten mit meinen Gastgebern austauschen.
Forschungsalltag
Jeder Tag in Dassanetch begann für mich mit Kaffee und Milch. Ich wurde zu einer meiner Gastmütter gerufen und führte dabei informelle Gespräche. Nach dem morgendlichen Kaffeegetränk begann meist die Zeit vor den Häusern. Mein Forschungsalltag passte sich den Aktivitäten meiner Gastgeber an, weshalb ich diesen hier umreißen möchte. Die Raumnutzung der Dassanetch verändert sich im Laufe des Tages als Reaktion auf den Sonnenstand. Während des Vormittages verbringen die Familienmitglieder, die zu Hause bleiben die Zeit vor oder neben ihren Häusern. Wenn die Sonne höher steigt, setzen sich die meisten Personen auf die Westseite des Hauses um den Schatten zu genießen. Am späten Vormittag begeben sich die Bewohner in ihre Schutz bietenden Häuser, da zu der zunehmenden Hitze sich auch staubige Winde gesellen. Die meisten Personen sind darauf aus während der Hitze nur die nötigsten Aktivitäten zu verrichten. In meinem Tagebuch charakterisiere ich die Mittagszeit derart:
18.6.2004 Mittags ist die Ruhezeit. Die Bühne ist leer gefegt. Leer gefegt von dem staubigen Wind und den Sonnenstrahlen. Die Menschen sind in ihren Häusern oder unter den Speichern, wo es ein wenig Schatten gibt. Die meisten schlafen. Es ist eine solare Ruhe.
Diese solare Ruhe wird durch die länger werdenden Schatten verändert. Am späten Nachmittag verringern die Winde ihre Intensität und die Temperatur sinken. In diesen Stunden interagieren die Akteure besonders gelöst. Die meisten sitzen vor ihren Häusern oder wählen einen anderen Schattenplatz. Menschen aus verschiedenen Häusern treffen und unterhalten sich und gehen dabei ihren Arbeiten nach. Die Kinder spielen intensiv miteinander. Zudem kommen in den Abendstunden alle Familienmitglieder wieder zusammen. Die Jungen kehren von dem Ziegenhüten zurück, Erwachsene kehren von den Feldern oder aus der Stadt heim. Es ist eine besonders soziale Zeit. Mit Abstand die meisten Sequenzen der Filme Siblings in Conflict und Doors Wide Open wurden am späten Nachmittag gemacht. In meinem Tagebuch bemerkte ich zu dieser Zeit des Tages:
18.6.2004 Diese Ruhe wird erst gebrochen, wenn die Schatten länger werden und die untergehende Sonne die Wahlmöglichkeiten bezüglich des Aufenthaltraumes erweitert. Im Schatten der Speicher finden wieder Spiele und Arbeiten statt. Die Zeit wenn die Ziegen nach Hause kommen ist die aktivste Zeit meiner Familie. Die Rufe der kleinen und großen Ziegen nach einander gibt den Akteuren einen Drive den Raum durch Aktivität zu erobern.
Nachdem die Sonne untergegangen ist verändert sich der Raum erneut.
18.6.2004 Nachts sieht die Raumnutzung wieder ganz anders aus. Die Mehrheit der Bewohner sitzt auf Häuten vor den Häusern. Es gibt zu Essen und Trinken und es wird miteinander erzählt. Derartige Situationen sind am Tage nicht vorstellbar. Während am Tag in den Häusern gegessen und geredet wird, ist der Raum in der Nacht weiter geöffnet.
Mein Alltagsverhalten passte sich stark diesem Rhythmus an. Ich verbrachte die meiste Zeit mit meinen Gastgeschwistern und Müttern. Ich trank mit ihnen Kaffee. Ich zog mich mit ihnen in die Häuser zurück. Ich spielte und arbeitete mit ihnen am Abend. Zwischenzeitlich filmte ich alltägliche Erscheinungen. Ich filmte immer dann, wenn ich es für angebracht und lohnenswert hielt. Zu meinem filmischen Verhalten sage ich im nächsten Kapitel noch mehr. Ich führte bis auf wenige Ausnahmen keine Interviews. Die Interviews, die ich führte, sind für vorliegende Arbeit nicht relevant. Meine wesentliche Forschungsmethode war neben dem Filmen die alltägliche teilnehmende Beobachtung. Ich teilte den Alltag mit meiner Gastfamilie und lernte ihn dadurch kennen. Ich passte auf die Ziegen und Kinder auf, ich spielte mit meinen Geschwistern, ich ruhte und aß mit ihnen. Dabei führte ich informelle Gespräche. Die meisten davon waren praktisch und alltagsorientiert. Mit einigen Personen konnte ich jedoch auch die Entwicklung und Thematik meiner Forschung diskutieren.
Hauptinformanten
Einige Personen meiner Gastfamilie waren von herausragender Bedeutung für meine Arbeit. Zu allererst ist in diesem Zusammenhang Kidoa, die Zweitfrau meines Gastvaters zu erwähnen. Mit ihr konnte ich am besten kommunizieren, da sie ein gutes Verständnis für meinen Sprachgebrauch entwickelte. Sie wusste, welche Worte ich verstand und verwendete diese, um mit mir zu sprechen. Dadurch vermochte sie es auch, mir effektiv neue Wörter zu erklären. Ich verbrachte viel Zeit mit ihr, da vor allem sie mich mit Nahrungsmitteln versorgte. Meine Dankbarkeit versuchte ich am Ende damit auszudrücken, indem ich ihr mein Haus überließ.
Standbild Nr.1: Kidoa.
Besonders nahe stand mir auch Ankoi, der zweitjüngste Sohn Nakwas. Er nahm mich oft bei der Hand und erklärte mir das Land und Leben der Dassanetch aus seiner Sicht. Vor allem durch das Beobachten seines Verhaltens lernte ich viel über das Thema dieser Arbeit. Da er meistens in meinem Haus schlief erklärte er mir bis tief in die Nacht die Regeln in der Konfliktaustragung. Viele Dorfbewohner nannten ihn „Deinen Ankoi“, wenn sie mit mir über ihn sprachen. In der Sequenzinterspecies conflict sagt Kidoa dies beispielsweise.
Standbild Nr.2: Ankoi.
Wesentlich vorangetrieben hat auch Yendite, Nakwas älteste Tochter, meine Arbeit. Da sie die meiste Zeit zu Hause blieb, konnten wir viel Zeit miteinander in den Schattenräumen verbringen. Dabei schenkte sie mir viel Geduld in dem Erklären von Worten und in dem Vermitteln von kulturellen Konzepten auf für mich verständliche Art und Weise. Immer wenn mir eine Frage durch den Kopf ging, wandte ich mich zuerst an sie, um Antworten zu finden. Ebenso dankbar bin ihr für die Hilfe bei praktischen Dingen. Sie half mir beim Kochen so wie ich ihr beim Melken der Ziegen half.
Standbild Nr.3: Yendite.
Auch wenn ich hier drei Personen besonders hervorgehoben habe, so war doch mein Forschungspartner Nummer eins die Familie von Nyabbanga als Ganzes. Jedes einzelne Mitglied hat mich in meiner Arbeit unterstützt und auf seine spezielle Art gefördert. Ohne die Unterstützung jedes einzelnen Familienmitgliedes wäre das Projekt nicht möglich gewesen.
Forschungsthematik
Als ich nach Äthiopien reiste, hatte ich mich auf eine Forschung zu den Residenzmustern in Dassanetch vorbereitet. Ich hatte zu diesem Zweck im Vorfeld verschiedene Literaturen zu Lebensraumnutzung, Nomadismus, Symbolik des Häuserbaues und über die ökologischen Besonderheiten des Omodeltas durchgearbeitet. Bei einem Gespräch am South Omo Research Center mit meinem Erstprüfer Prof. Ivo Strecker wenige Tage vor der Ankunft in Dassanetch stellten wir uns die Frage, warum ich anstelle des geplanten Vorhabens keinen Film über die Dassanetch mache. Da wir keine befriedigende Antwort fanden, entschieden wir, dass mein Magisterprojekt von nun an ein multimediales Projekt sein sollte: Auf der einen Seite solle ich einen Film, auf der anderen Seite einen analytischen Text, der auch Hintergrundinformationen liefert, erstellen.
In Dassanetch angekommen wusste ich nicht, worüber der Film und daher auch der Text gehen sollten. Dies führte dazu, dass ich im Verlauf der Forschung verschiedene thematische Schwerpunkte im Kopf hatte. Selbst bei Beendung der Forschung hatte ich eine andere Vorstellung von der Thematik als zum heutigen Zeitpunkt. Verschiedene Eintragungen aus meinem Tagebuch veranschaulichen diese Entwicklung und sollen daher hier zitiert werden. Am 1.5. schrieb ich:
1.5.2004 Abends filme ich erneut: Kinder, die spielen. Mit der kleinen Nabario fange ich an und sie eröffnet den sozialen Raum um sie herum. Das Einfachste ist das Filmen der Kinder…. Jetzt ist der soziale Raum der Kinder mein dankbares Motiv.
Am 6.5., fünf Tage später schrieb ich in Jinka:
6.5.2004 Es kommt mir in den Sinn einen Film über „time, space and human behaviour“ zu machen. Vier Kapitel: 1. Morning hours. 2. Noon hotness. 3. Playing in the evening. 4. Night. Das dritte Kapitel könnte den meisten Platz einnehmen. Jede Szene könnte mit dem Datum gekennzeichnet werden, sodass eine Reihe von morgendlichen, abendlichen usw. Momenten aneinandergereiht werden könnten.
In Dassanetch wählte ich dann das Melken als Thematik für den Film:
14.5.2004 Gestern filmte ich das Melken. Eine Kassette. Vielleicht mache ich einen Film über das Melken. Wie unterschiedlich es sein kann. Wenn Nyabbanga da ist und wenn nicht etc.
Bei Überlegungen in Jinka tauchte dann erstmals eine Idee auf, die der endgültigen Thematik in etwa entspricht. Jedoch war sie erst als Teilthematik in Betracht gekommen:
27.5.2004 Nach zwei Wochen in Aoga wird das Bild des Filmes klarer: Der abendliche Ziegenkral als Schauplatz der sozialen Interaktion. Mir schwebt ein Film vor, der zu Doors Wide Open ein Gegenbild liefert. In Doors werden die Kinder als Freie, in einem anarchistischen sozialen Raum präsentiert. In dem jetzigen Film möchte ich das Auflegen der Schranken zeigen, vor allem das Aushandeln der Schranken unter den Kindern. Das heißt – die Tendenz Streit zu suchen und die permanente Bereitschaft sich zu schlagen. Dies findet zu JEDER Tageszeit statt und wird auch nicht von den Eltern unterdrückt. Dies gilt es ebenfalls zu zeigen.
Bei meinem nächsten Aufenthalt erlebte ich ein Ereignis, welches mich von der endgültigen Thematik überzeugte. Die Notizen, die ich mir an zwei aufeinander folgenden Tagen zu diesem Ereignis machte, möchte ich hier komplett zitieren, da sie eine Art Schlüsselerlebnis sind:
8.6.2004 The Game: Es ist ein Spiel. Der Kampf um die Ressourcen – das Aufbauen der Grenzen – das Schließen der Türen – alles wird als Spiel ausgetragen. Ich saß bei Kidoa erstmals und trank ihren guten Kaffee – mit ein wenig Berbere [eine Gewürzmischung]. Und das Spiel wurde schon deutlich als Noicho – aus der einen Ecke fragt: Bunna shish! [Gib Kaffee!] Kidoa antwortet mit dem Blick auf den kochenden Topf: Man! [Es gibt keinen.] Teil 2 des Spiels war als Angute [Kidoas Schwester] kam und nach Kaffee fragte. Darauf schimpfte Kidoa und gab ihr sehr wenig. Dann schimpfte Angute noch lauter, sodass ich anfangen musste mit Lachen, da das Spiel so deutlich wurde. Daraufhin musste auch Angute und dann Kidoa lachen. Alle Teilnehmer kennen das Spiel. Alltäglich nehme ich daran teil, ohne dass es mir bewusst wurde. Und das Schlagen mit dem Stock – das Gegenüberstehen ohne sich zu bewegen – alles Formen des Spiels. Vielleicht ist auch das Hörnerstoßen der Ziegen ein ähnliches Spiel. Dieses Spiel soll Thema [zuvor benutzte ich das Wort „Teil“; strich es dann aber durch!] des Filmes sein.
9.6.2004 Nachtrag Spiel. Noicho wurde von Angute ihre Schüssel mit Kaffee weggenommen. Obwohl sie wusste, dass sie ihr wieder gegeben wird, schimpfte sie laut und wollte sie schlagen. Daraufhin schrie auch Angute und schlug ihr auf den Kopf. Dann setzte sich Lokoit [ein alter Mann] vor das Haus und fragte nachBun [Kaffee]. Darauf schaute Noicho schüchtern auf den Boden und gab zwar langsam, aber ohne zu mucken die Schüssel weg – obwohl sie immer noch nichts getrunken hat. Die Schüssel wurde benutzt als Kelle. Daraufhin lachte ich sie an. Als Reaktion darauf versteckte sie sich unter einem Getreidesack. Das Spiel – die Regeln werden befolgt oder nicht – aber immer sind sie Auslöser von emotionalen Reaktionen die ich versuchen will einzufangen und visuell aufzunehmen.
Zurück in Jinka ließ ich jedoch immer noch nicht von der Melken-Thematik ab. Nunmehr stand die Konfliktthematik an Nummer eins, vor dem Melken:
18.6.2004 Inhaltlich ist nun klar, dass ich über zwei Aspekte erzählen möchte. Erstens: das Schrankenlegen und die verwendete Methode. Hierbei meine ich im Speziellen die Eisbergspitze, das Schlagen. … Zum zweiten Aspekt: Der Ziegenkral und das Melken.
Mit den vielen Zitaten aus meinem Tagebuch wollte ich verdeutlichen, dass ich die Thematik „vor Ort gefunden habe“. Durch Beobachten des Alltages meiner Gastfamilie empfand ich das Austragen von Konflikten als bezeichnendes Merkmal. Eine große Rolle bei der Themenwahl hat jedoch auch die Visualität der Konfliktaustragung. Streitende und kämpfende Akteure sind audiovisuell attraktiv darstellbar, was die Wahl ohne Zweifel beeinflusste.
Probleme beim Filmen
Zu Beginn meines Aufenthaltes zeigten sich Probleme während des Filmens, die im Endprodukt nicht sichtbar sind. Aus diesem Grund werde ich einige Erfahrungen und Entwicklungen während des Filmens vor Ort besprechen.
Mit den anfänglichen Aufnahmen war ich nicht zufrieden. Sie vermittelten Reaktionen der Akteure, die ich nicht auslösen wollte. Zu Beginn der filmischen Arbeit war meine Aktivität eine Attraktion, die laufende Aktionen beendete. Akteure unterbrachen ihr Verhalten, welches ich filmen wollte. Ein Zitat aus meinem Tagebuch drückt die Verzweiflung darüber aus:
30.4.2004 Wenn ich meine Kamera raus hole, dann rennen die Kinder jedoch ins Bild und lachen. Oder sie gucken nur. Ich hoffe, dass sie sich das schnell abgewöhnen und das Filmen nicht mehr als störende Attraktion empfunden wird. Ich frage mich, wie ich diesen Prozess beschleunigen kann und wodurch ich ihn verlangsamen könnte. Als eine Antwort darauf nehme ich mir vor, möglichst oft mit der Kamera sichtbar zu sein. Dadurch erhoffe ich mir eine Veralltagisierung des Filmens.
Nach wenigen Tagen erfüllte sich meine Hoffnung. Das Filmen hörte auf Aktionen zu unterbrechen. Die Akteure gewöhnten sich an die Präsenz der Kamera und unterbrachen nicht mehr ihre alltäglichen Aktivitäten. Die Methode von David MacDougall, der seine Kamera immer bei sich trug indem er sie mittels eines Gestelles an seinem Körper befestigte, (Vgl. Barbash & Taylor 1997: 365f.) empfand ich jedoch nicht als erstrebenswert. Vielmehr war es auch nötig, dass ich für gewisse Zeiten die Kamera sichtbar verstaute, sodass die Akteure wussten, dass ich augenblicklich nicht filmen werde. Am 15.5. bemerkte ich, dass meine Filmarbeit den erwünschten Anfang gefunden hatte:
15.5.2004 Ich bin dabei oder wie soll ich es ausdrücken? Das Filmen läuft. Ich merke es an Dingen wie das mir die Dassanetch sagen – filme das und das. Auch die Kinder rennen nicht mehr vor die Kamera. Filmte heute das Haaremachen von Nakwa tini. Mittag fing ich die Sonnenstimmung ein. Jetzt bin ich eine Woche hier und die Zeit brauchte es.
Filmischer Stil
Im weiteren Verlauf meiner Forschung zeichnete sich mein Filmverhalten vor allem durch eine Einstimmung meinerseits auf die vermeintlichen Interessen der Akteure aus. Ich versuchte herauszufinden, wann die Familienmitglieder das Filmen akzeptabel und wann es als unpassend empfunden wurde. Ich achtete auf Zeichen, die ich versuchte zu verstehen. Verbale Äußerungen oder eindeutige Gesten waren einfach. Unfreundliche Blicke, flüchtiges Lächeln oder indirekte Andeutungen erforderten ein erhöhtes Maß an Sensibilität. Meistens bestanden die Zeichen jedoch aus noch komplizierter zu entschlüsselnden Hinweisen. In meinen Feldnotizen nannte ich diesen Prozess ein „aufeinander Einstimmen“. Ich beschrieb diese Form der Interaktion, die meines Erachtens für die Praxis des ethnologischen Filmes von zentraler Bedeutung ist, derart:
16.5.2004 Filmen oder Nichtfilmen und was Filmen hängt ganz stark von einer schwer zu beschreibenden Eigenschaft des Raumes ab. Die „Subjekte“ müssen mir Signale senden, dass sie bereit sind gefilmt zu werden und ich muss selber gerne filmen. Nur dann entstehen Bilder, die ich in den Film integrieren möchte.
In dem Film gibt es dezente Hinweise auf das Aufeinander Einstimmen. Die Standbilder Nummer vier bis sieben zeigen Augenblicke, in denen die Akteure mein Verhalten beobachten. In solchen Momenten versuchte ich die Reaktionen der Akteure auf das Filmen zu deuten.
Standbilder Nr. 4-7: Die Akteure reagieren auf den Filmemacher und umgekehrt.
Eine weitere Beeinflussung ist Jean Rouchs (2003: 45ff.) Konzept der geteilten Ethnologie gewesen. Er forderte eine filmische Ethnologie in der Beforschten am Entstehungsprozess des Filmes konsequent beteiligt sind. In der handlichen und einfach zu bedienenden Videokamera sah er dafür die einladende Möglichkeit. Diese Forderung hatte jedoch für meine Herangehensweise wenig direkte Konsequenzen. Ich verweigerte konsequent den Akteuren die Benutzung meiner Aufnahmegeräte. Dennoch teilte ich in gewisser Weise die Macht der Darstellung. Ich versuchte stets, der Rolle, die mir als Filmemacher von meiner Gastfamilie gegeben wurde, gerecht zu werden.
Um mein filmisches Verhalten weiter zu erklären, ordne ich es zwischen dem Verhalten des klassischen Direct Cinema und Cinéma vérité Filmern ein. Beide Richtungen entwickelten sich in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Kamera im Direct cinema übernimmt eine rein beobachtende Funktion. (Vgl. Barsam 1992: 304ff) Die Präsenz des Produktionsteams wird gezielt verborgen, so als ob die Kamera eine unscheinbare Fliege an der Wand sei. Im Gegensatz dazu wirkt die Kamera im Cinéma vérité als Katalysator. (Vgl. Barnouw 1993: 261ff.) Das Filmteam leitet aktiv Aktionen ein, was zu einer deutlich erkennbaren Rolle der Kameramänner führt. Das Direct cinema versucht Realität unverändert einzufangen. Das Cinéma vérité schafft eine filmische Realität, die es ohne Kamera nicht gegeben hätte, und stellt diese dar.
An manchen Stellen initiierte ich aktiv Geschehnisse. Die Sequenz approaching limits ist dafür ein Beispiel. Die beiden Kinder fingen an sich zu schlagen, beendeten dieses Verhalten jedoch als ich meine Kamera filmbereit machte. Daraufhin fragte ich, warum sie für mich damit aufhören. Die Reaktion auf diese Frage ist die sichtbare Sequenz. Auch die Sequenz target-oriented conflict over milk zeigt mein direktes Eingreifen. Hier fordere ich Yendite auf, der weinenden Nakwa tini Milch zu geben.
Obwohl ich an den beschriebenen Stellen direkt das Geschehen vor der Kamera beeinflusse, stellt die konsequentere Beeinflussung des Geschehens meine bloße Aktivität als Kameramann dar. In jeder Sequenz verändert meine Präsenz das Geschehen. In vielen Filmkapiteln ist dies an der Reaktion der Akteure deutlich zu erkennen. Immer wieder schauen die Personen in die Kamera oder geben Kommentare zu meiner Arbeit. Offensichtlich beeinflusste das Filmen das Verhalten der Akteure. In manchen Sequenzen ist dies deutlich spürbar (z. B. bei siblings of different ages, und bei testing determination) während es in anderen Teilen weniger eindeutig ist (z. B. target-oriented conflict over an object, das Ende von from conflict to fight). Die Kamera verändert permanent die Realität, was ich versucht habe deutlich zu machen.
Standbilder Nr. 8 & 9: Die Präsenz der Kamera schafft eine Realität, die es ohne sie nicht gegeben hätte.
Da ich nur in wenigen Fällen Verhalten gezielt initiiert habe, schreibe ich mein aktives Auftreten der beobachteten Richtung des Direct cinema zu. Ohne mein direktes Zutun verwirklichte ich jedoch die Prinzipien des Cinéma vérité, indem das Filmen an sich Realitäten erzeugte, die es derartig vorher nicht gab. Dies habe ich jedoch nicht gezielt provoziert. Für den Film Siblings in Conflictpraktizierte ich also ein aktives Direct cinema und ein passives Cinéma vérité.
Postproduktion
Auch nachdem das Drehen vor Ort abgeschlossen war, durchlief das Projekt weiterhin einschneidende Veränderungen. In diesem Kapitel möchte ich die Entwicklung des Filmes während der Postproduktion darstellen. Damit möchte ich auch auf den konstruktionellen Charakter des Filmes aufmerksam zu machen.
Phase 1: Zusammensetzen
Mit Gino Loshere übersetzte ich 12 von 18 Stunden Rohmaterial. Innerhalb von nur drei Tagen erledigten wir dieses Vorhaben. Da ich noch nicht wusste, welches Material ich benutzen wollte, übersetzte ich so viel. Durch das Übersetzen der Gespräche entdeckte ich mir zuvor Unbekanntes. Mittels der Kommentare der Akteure über mein Auftreten erhielt das Rohmaterial beispielsweise reflexive Eigenschaften, die mir in dem Ausmaß nicht bewusst waren. Außerdem war ich erfreut über den genauen Inhalt der vielen Streitgespräche. Dadurch wurden Konflikte auch auf der verbalen Ebene dargestellt. Über die Entdeckung durch die Übersetzung des Materials schrieb ich:
10.8.2004 Was wir übersetzen ist wundervoll. Die Vorstellungen, die ich über den Inhalt hatte sind so präsent in den gesprochenen Worten. Das Dirigieren der Menschen – es ist visuell und wird offensichtlich wenn man seine Ohren auch mit einsetzt. Es ist mit allen Sinnen wahrnehmbar.
Nach Sichtung des Materials entwickelte ich zudem eine mögliche Filmstruktur, die im Anhang Nummer Eins einsehbar ist. Diese Struktur beinhaltet ausführliche Einführungen in die Umgebung und den sozialen Raum, alltägliche und konfliktreiche Interaktionen, ideale Abläufe vom Ziegenmelken und chaotische Abläufe des Ziegenmelkens.
Phase 2: Wegschneiden
In Mainz verwirklichte ich dann mit geringen Abstrichen diese entworfene Struktur. Resultat war eine über fünf Stunden lange Rohschnittfassung. Das Ausgangsmaterial wurde lediglich gekürzt und thematisch geordnet. Ich fragte mich, ob ich Aufnahmen aneinander ordnen kann, die zeitlich distanziert von einander aufgenommen wurden. Erst nach mehr als einem Monat konnte ich diese Frage beantworten:
25.11.2004 Heute brach ich einer meiner wichtigsten Regeln beim Schneiden. Ich mische Ereignisse. Von drei verschiedenen Melken Tagen mache ich ein Ereignis. Dieses sieht dann so aus, als wäre es an einem Tag aufgenommen.
Parallel zu den Kürzungen des Filmes entwickelte ich auch einen Filmrhythmus. Bewusst wurde mir diese Entwicklung, als ich am 2.12.2004 eine Sequenz vor dem Melken schnitt:
2.12.2004 Ich habe es geschafft, das Melken auf 1 Stunde und 7 Minuten zu kürzen. Und ich habe soeben meinen Schnittstil gefunden. Es war die taking care fort he kid Sequenz, wo ich schneide entsprechend der Aktionen im Bild. Yendite lässt das Holz in die Tür fallen, ich schneide. Ankoi benutzt seine Peitsche mit den Ziegen, ich schneide. Das Resultat ist eine Sequenz, die den Zuschauer in die Thematik zieht. So wie ich die Sequenz schneide, lenke ich die Wahrnehmung des Zuschauers, das stimmt. Ich lenke sie aber mittels des Rhythmus’ der in der Sequenz selbst vorhanden ist. Es ist ein Schnittstil, der auf den Rhythmus des Inhaltes hört.
Nach minimalen Höhepunkten in einer Szene folgt diesem Stil nach ein Schnitt. Das hat den Effekt, dass der Zuschauer Szenen wahrnimmt, in denen der Höhepunkt das Ende der Einheit darstellt. Durch das Fehlen der Lösung bleibt die aufgebaute Spannung erhalten. Konsequent durchgeführt würde das Ende des Filmes all die Spannung lösen, die während jeder Szene addiert wurde. Praktisch ist dies jedoch im Dokumentarfilm nur bei enorm stilisierten Filmen zu realisieren. Nicht alle Szenen enthalten einen klar definierbaren Höhepunkt. Ich habe zudem nicht alle Szenen nach diesem Muster geschnitten, da dies inhaltliche Reduzierungen mit sich bringen würde.
Ein weiteres Rhythmus erzeugendes Mittel entwickelte ich am selben Tag:
Ich verstand diesen Abend noch einen Weg durch Montage Rhythmus zu erzeugen: den formalen Weg. Ich habe rausgefunden, dass es sehr gut passt, Szenen zu zeigen die exakt die gleiche Länge haben. Ich schnitt die goats outsideSequenz. Ich habe bemerkt, dass die schönen Aufnahmen die durch den Wind laufen immer mehr Schönheit verlieren, wenn die Szene länger als 5 Sekunden ist. Am Anfang war sie 12 Sekunden. Dann reduzierte ich die Dauer Schritt für Schritt. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie immer noch zu lang sind. Ich sah mir an wie lange es dauert, bis man alles wahrgenommen hat: die Ziegen, den Wind, den Staub und die totale Szenerie. Nach fünf Sekunden war es genug. Danach machte ich alle Impressionsaufnahmen, wie ich Aufnahmen nenne, die nicht von Aktionen bestimmt sind, fünf Sekunden lang. Dadurch entwickelte sich ein netter Fluss von Impressionen.
Auch inhaltlich veränderte sich der Film zu dieser Zeit. Grund hierfür ist das Lesen der Fachliteratur für den Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Am 22.11. bemerkte ich diesbezüglich:
22.11.2004 Ich las und las über Konflikttheorien und das hat mir geholfen genauer zu wissen, worum es in dem Film gehen wird. Ich werde den Film nun endgültig: Siblings in Conflict nennen und mich nur mit den Konfliktsituationen auseinandersetzten. Das verschafft mir die Möglichkeit, viel zu kürzen.
Das nächste Kapitel erläutert die erwähnte Umsetzung der Konfliktthematik. Hier möchte ich noch auf die Titelwahl eingehen. Nach der Sichtung des Rohmaterials wollte ich in den Titel das alltägliche Aushandeln der Rechte integrieren. Der Arbeitstitel schwankte dann zwischen To influence and to be influenced und Defining borders. Ich wollte dann auch den Aspekt integrieren, dass wie und was ich filmte, von den Akteuren beeinflusst wurde. Der lange bestehende Arbeitstitel, der beides integrierte, war daher Directing and to be directed. Um die Thematik des Filmes deutlicher werden zu lassen, wählte ich schließlich Siblings in Conflict.
Phase 3: Inhaltliche Begrenzung
Anfangs wollte ich einen deutlich unkonventionellen Film machen, der den Alltag in Dassanetch widerspiegelt. Er sollte auch Sequenzen beinhalten, in denen nicht viel passiert. Erst spät entwickelte sich das Projekt zu einem aktionsreichen Film:
26.11.2004 Ja, ich mache wiedermal was ich geplant habe nicht zu machen. Ich konstruiere eine filmische Realität, die voller Aktionen, voller Leben ist. Dieser Film wird wieder nicht die Realität repräsentieren, wie ich sie vor Ort wahrgenommen habe. Ich habe oft dagelegen und nichts ist passiert. Ich beobachte die Sonne, wie sie vorrüberzieht, hörte dem Rauschen des Windes zu und es passierte einfach nichts Spannendes. Was ich nun mache, ist wieder eine Reduzierung auf die aufregenden Aspekte meines Aufenthaltes. Ich präsentiere die Highlights.
Einige Tage später versuchte ich diese Reduzierung auf Highlights mit der filmischen Natur zu begründen:
10.12.2004 Niemand will Sequenzen in Echtzeit sehen. Film ist immer einer Reduzierung auf die absoluten Highlights der Realität. Es ist eine Zusammenfassung. Es ist vielmehr Erinnern als Denken, da Denken normalerweise langweilige und aufregende Ideen beinhaltet. Aber Film erinnert nur an die Highlights, an die Dinge, die Wert sind sich daran zu erinnern. Sonst langweilt es die Zuschauer zu Tode. Das ist das Herz einer filmischen Theorie, welches Film als eine mentale Repräsentation ansieht.
Konsequent verwirklichte ich die Konfliktthematik erst nach dem Sichten einer möglichen Schnittfassung mit Felix Girke und Tina Brüderlin. Durch das gemeinsame Sehen des Filmes und die hilfreichen Kommentare verwarf ich nochmals die bis dahin bestehende Struktur. Einzelne Sequenzen wurden verschoben, zusammenhängende geteilt und an unterschiedlichen Stellen eingefügt. In meinem Schnitttagebuch beschrieb ich die Veränderungen so:
15.12.2004 Heute sah ich den Film mit Felix und Tina. Das führte zu radikalen Veränderungen. Erstens: Jetzt ist der Film 37 Minuten lang!!! Zweitens: Alle Sequenzen sind in unterschiedliche Anordnung gebracht. Anstatt dass ich die unterschiedlichen Formen von Konflikten aufliste, die dann beim Spielen und Melken praktiziert werden, präsentiere ich jetzt nur die Liste von Konfliktformen, nur eben mehr davon. Das Hauptresultat ist, dass es jetzt wirklich ein Film über Konflikt ist und nichts mehr.
In den letzten Tagen der Postproduktion verdeutlichte ich dann noch den theoretischen Rahmen, indem ich Zitate von zwei konflikttheoretischen Werken integrierte. Die letzte Veränderung war das Überblenden der Tanzsequenzen in die Schlussbilder. Damit wollte ich verdeutlichen, dass neben Konflikten auch harmonische Interaktionen den Alltag ausfüllen.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel habe ich Hintergründe zu der Entstehung des Projektes dargestellt. Ich bin auf Situationen vor Ort eingegangen, habe mein filmisches Verhalten und wesentliche Entwicklungen während der Postproduktion beschrieben. Dieses Kapitel hatte das Ziel, den Entstehungsprozess des Filmes und des Textes transparent werden zu lassen. Die wichtigsten Eckdaten habe ich in Form einer Chronik in Anhang Nummer zwei dargestellt. Dort kann der interessierte Leser die wesentlichen Entwicklungen des Projektes zusammengefasst ersehen.
Konflikt und Konflikttheorie
Überblick
Dieses konflikttheoretische Kapitel hat folgende Ziele: Zum einen möchte ich Begriffe vorstellen, die für vorliegende Arbeit besonders relevant sind. Dies ist nötig, um zu verdeutlichen, was ich mit Begriffen wie Konflikt meine und was nicht. Zum anderen erläutere ich Standpunkte zu der Frage, ob sich Menschen und die menschliche Gemeinschaft primär durch Harmonie oder durch Konflikte auszeichnen. Die größte Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf die Debatte, ob Konflikte destruktiv sind oder ob ihnen produktive Potenziale zugeschrieben werden können. Anhand von acht Thesen versuche ich herauszuarbeiten, wofür Konflikte gut sind und wie sich ihr produktives Potenzial entfaltet.
Zu den Begriffen
Unter Konflikten wird in der Fachliteratur häufig etwas Verschiedenes verstanden. Einige Autoren verwenden den Begriff analog zu Ausdrücken wie Gewalt oderAggression andere grenzen derartige Begriffe deutlicher voneinander ab. Um mich in den folgenden Ausführungen möglichst deutlich zu verständigen, ist es nötig, dass wir uns mit einigen Begriffserläuterungen auseinander setzen.
Konflikt
Was zählt als Konflikt und was nicht? Sucht man die Antworten darauf in der konflikttheoretischen Literatur, so ist man einem bunten Durcheinander ausgesetzt. Manche Autoren verstehen unter Konflikten Verhalten oder Interaktionen, andere Wahrnehmungen und wieder andere Beziehungen zwischen Menschen. Jeffrey Rubin zum Beispiel definiert den Konflikt als eine bestimmte Wahrnehmung: A „perceived divergence of interests“ (Rubin 1994: 5). Auch Bernhard Giesen stellt bei der Definition gegensätzliche Auffassungen zwischen Menschen in den Vordergrund: „Ein Konflikt bezeichnet die Unverträglichkeit zwischen den Auffassungen mehrerer Konfliktakteure.“ (Giesen 1991: 215) Betrachtet man Beziehungen, Interessen oder Wahrnehmungen, so hat man ein anderes Verständnis des Begriffes, als Autoren die unter Konflikten Interaktionenoder Verhalten verstehen. Ein Beispiel hierfür ist Lewis Cosers Verständnis von Konflikt: „Conflict, as distinct from hostile attitudes or sentiments, always takes place in interaction between two or more persons.“ (1956: 37, Hervorhebung von mir)
Autoren wie Jack Citrin betrachten zudem ausschließlich wirtschaftlich orientierte Interaktionen als Konflikte: „Conflict refers to a situation in which there is disagreement over how to divide scarce resources.” (2001: 2547) Andere begrenzen Konflikte nicht derartig. Ich möchte in diesem Kapitel keine universell gültige Definition des Begriffes anstreben. Ich will an dieser Stelle nur verdeutlichen, dass ich in dieser Arbeit unter dem Begriff Konflikt nicht Beziehungen als solche meine. Auch meine ich nicht Motive, Interessen oder Intentionen von den Akteuren. Vielmehr bespreche ich die materiellere Seite des Begriffes – sichtbare Interaktionen. Der Fokus liegt auf dem Prozess der Austragung. Ich übernehme somit bis zu einem gewissen Maß den Betrachtungsstandpunkt Coser’s. Der Kontext dieser Betrachtung, die Diskussion über den Film Siblings in Conflict, legt eine solche Herangehensweise nahe, da hier Konfliktverhalten primär beobachtet und weniger darüber gesprochen wird.
Um möglichst präzise über Konflikte zu debattieren, ist es hilfreich, den Begriff Konflikt weiter zu spezifizieren. Aus diesem Grund möchte ich hier noch die Bedeutung der Begriffe sozialer Konflikt, realistischer und nichtrealistischer Konflikt, Normen– und Ressourcenkonflikt umreißen, da diese im weiteren Verlauf von Bedeutung sein werden.
Sozialer Konflikt
Mit dem Begriff Konflikt meine ich von nun an genauer gesagt den sozialen Konflikt. Ein sozialer Konflikt zeichnet sich nach Giesen (1991: 211) durch seine Normativität aus. Das bedeutet, dass in einem Konflikt nur der Einsatz begrenzter Mittel erlaubt ist. Er folgt bestimmten Normen. Ich folge somit auch Dahrendorfs Vorstellung des sozialen Konfliktes: „Sozial soll ein Konflikt dann heißen, wenn er sich aus der Struktur sozialer Einheiten ableiten lässt, also überindividuell ist.“ (1972: 24) Soziale Konflikte sind in die soziale Struktur der Gesellschaft integriert. Faktisch ist nahezu jeder Konflikt sozial, da selbst Kriege immer noch von Normen beeinflusst werden. (Vgl. Giesen 1991: 220)
Realistischer & Nichtrealistischer Konflikt
Die Unterscheidung zwischen realistischem und nichtrealistischem Konflikt geht auf Coser (1956) zurück. Der realistische Konflikt zeichnet sich durch seine konkrete Zielsetzung aus:
Social conflicts that arise from frustrations of specific demands within a relationship and from estimates of gains of the participants, and that are directed at the presumed frustrating object, can be called realist conflicts. (Coser 1956: 156)
Nichtrealistische Konflikte werden weniger wegen eines materiellen Zieles ausgetragen, sondern der Wirkung des Konfliktes selbst wegen: „Nonrealistic conflicts, on the other hand, are not occasioned by the rival ends of the antagonist, but by the need for tension release of one or both of them.” (Coser 1956: 156) Bei nichtrealistischen Konflikten geht es also primär um die Befriedigung durch den Konflikt selbst, als darum ein greifbares Ziel zu erreichen.
Die Unterscheidung in diese beiden Kategorien werde ich bei der Besprechung des Filmes übernehmen. Ich empfinde jedoch die Wahl der Begriffe realistischerund nichtrealistischer Konflikt als wenig gelungen. Zum einen, weil der nichtrealistische Konflikt durch eine Negativbezeichnung definiert wird. Zum anderen, weil das Adjektiv realistisch darauf verweist, das etwas der Wirklichkeit entspricht. Nichtrealistische Konflikte sind jedoch nicht weniger wirklich als realistische Konflikte. Stattdessen verwende ich im weiteren Verlauf den Begriff zielgerichteter Konflikt, wenn ich das meine, was Coser als realistischen Konflikt bezeichnet. In dem Adjektiv zielgerichteter ist die Haupteigenschaft des realistischen Konfliktes ausgedrückt, nämlich, dass er auf ein konkretes Ziel ausgerichtet ist. Das Hauptmerkmal des nichtrealistischen Konfliktes ist, dass die Akteure ihn seiner selbst willen ausüben. Von daher verwende ich für den nichtrealistischen Konflikt von nun an den Begriff selbstmotivierender Konflikt.
Ressourcen- & Normenkonflikte
Konflikte, die über den Zugang zu bestimmten Ressourcen ausgetragen werden, können als Resourcenkonflikte bezeichnet werden. (In der Literatur wird häufig auch der Begriff des Verteilungskonfliktes oder des Wirtschaftskonfliktessynonym verwendet.) Giesen versteht unter dieser Art des Konfliktes Folgendes:
Gesellschaften und soziale Organisationen haben … nicht nur das Problem der Erzeugung, sondern auch das der zufriedenstellenden Verteilung von knappen Gütern zu lösen. Alle bekannten Lösungen des Verteilungsproblems können nicht alle Bedürfnisse aller Mitglieder restlos erfüllen und erzeugen Frustrationen bei den betroffenen Mitgliedern. Erzeugung und Verteilung von knappen Gütern wird damit zur wichtigsten Quelle sozialen Konfliktes. (1991: 213-214)
Giesen weist hier auf die Verteilung von Gütern hin, die Ressourcenkonflikte auszeichnen. Ronald Fisher bezeichnet Ressourcenkonflikte als typische realistische Konflikte:
Economic conflict involves competing motives to obtain scarce resources, including territory, and is therefore one of the clearest forms of realistic conflict. Each party wishes to acquire the most of the resource that it can without perceptible limits, and therefore directs its behavior towards maximizing its gain at the expense of the other party. (1990: 33-34)
Ressourcenkonflikte sind spezielle realistische bzw. zielgerichtete Konflikte.
Dem Ressourcenkonflikt wird oft der Normenkonflikt gegenübergestellt. EinNormenkonflikt besteht dann, wenn sich mindestens zwei Parteien über die Auslegung von Regeln auseinandersetzen. (In der Literatur wird auch häufig der Begriff Regelkonflikt verwendet.) Fisher zählt folgende Eigenschaften für solche Normenkonflikte auf: „Value conflict revolve around incompatible preferences, principles, or practices that people believe in and are invested in with reference to their group identity.“ (1990: 34) In der empirischen Realität sind Normen- und Ressourcenkonflikte häufig miteinander verwoben. Typologien, wie die zuletzt aufgeführten, vereinfachen und reduzieren reale Umstände häufig, sind jedoch für das Ziel der verständlichen Vermittlung hilfreich.
Gewalt
Worin unterscheidet sich Gewalt von Konflikten? Nach den Einordnungen des Begriffes Konflikt wende ich mich nun dem der Gewalt zu. Für eine anschauliche Begriffserklärung verweise ich auf die Darstellungen von Wolfgang Gabbert (2004) und möchte hier nur die prägnantesten Charakteristika erwähnen. UnterGewalt meine ich eine Interaktion, ein Verhalten. Es ist eine besonders intensive und daher enger zu definierende Form der Konfliktaustragung. Gabbert definiert den Begriff der Gewalt so:
Gewalt ist eine Interaktion (im Sinne von Wechselwirkung), in deren Verlauf mindestens einer der Beteiligten absichtlich und gegen den Willen seiner Interaktionspartner Handlungen vollzieht, die zu deren physischer Verletzung führen oder führen könnten. (2004: 97)
Im Gegensatz zum Konflikt sind bei der Gewalt die Aspekte der physischen Verletzung und der Absichtlichkeit zwangsläufig integriert. Kulturübergreifend existiert kein einheitliches Verständnis darüber, was als Gewalt anzusehen ist und was nicht.
Die gleichen Verhaltensweisen werden … in verschiedenen Kulturen mal als Gewalt, mal als etwas anderes interpretiert, und der Umfang dessen, was in unterschiedlichen Gesellschaften jeweils unter „Gewalt“ … verstanden wird, differiert. (Gabbert 2004: 92)
Aggression
Was beinhaltet Aggression? Hierzu zählen nicht nur die Handlungen als solche sondern auch Einstellungen, Gedanken und Gefühle, welche die Person durchlebt und die das Verhalten von den Akteuren beeinflussen. Der Anthropologe Konrad Lorenz bezeichnete die Aggression als einen „auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch“ (Lorenz 1963: IX).
Aggression ist durch Verhaltensbeobachtungen, welche in dem Film Siblings in Conflict vermittelt werden nur bedingt fassbar:
We cannot rely upon the observation of a behavior alone to determine whether it is aggression. We have to tap the person’s psychological state at the time he initiated the behavior. (Scherer 1975: 3)
Ich werde in dieser Arbeit nicht primär den psychologischen Zustand der im Film gezeigten Akteure beschreiben. Über Motivationen von den Akteuren lässt sich nur spekulieren. Der Begriff Aggression und die Bedeutung dessen sollen hier also nur peripher von Bedeutung sein.
Konflikt – Konsensus Debatte
Sind die Menschen von Natur aus aggressive, egoistische oder gemeinschaftliche Wesen? Diese Frage wird seit langer Zeit in der Literatur kontrovers diskutiert. Beide Richtungen und weitere Unterteilungen möchte ich in diesem Kapitel kurz erläutern, da diese Diskussion der Grundstein der Konflikttheorie ist.
Thomas Hobbes’ Konzept des „Jeder gegen Jeden“ ist eine der deutlichsten pessimistischen Theorien über die menschliche Natur. (Vgl. Binns 1977: 183) Er verstand den Menschen als ein Wesen, das permanent von aggressiven Trieben gesteuert wird, die ein dauerhaft friedliches Miteinander unmöglich machen. Konflikte haben für Hobbes ihren Ursprung in der Natur des egoistischen Menschen. (Vgl. Wrong 1984: 204f.) Gefundener Konsensus unter den Menschen bedeutet nur eine vorübergehende Pause der Auseinandersetzung. Trotz kultureller und sozialer Impulse, dass Zusammenleben der Menschen zu befrieden, fällt der Mensch immer wieder auf seine Natur zurück: „Hobbes believed that the civil peace was a very fragile thing, and that chaos could and did break through the fragile thing…“ (Bernard 1983: 63) Eine deutliche Gegenposition wäre eine Theorie, welche die menschliche Natur primär als kooperativ bezeichnet und Konflikte externen Einflüssen zuschreibt. Bereits seit Aristoteles wird diese Theorie vertreten. Er verglich die Menschen und das menschliche Zusammensein mit dem kooperativen Zusammenspiel eines Bienenstaates. (Vgl. Bernard 1983: 14)
Beide Richtungen, also die Vorstellungen, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch oder grundsätzlich gemeinschaftlich ist, werden bis in die Gegenwart kontrovers diskutiert und erweitert. Emile Durkheim, zum Beispiel, folgt Hobbes mit seiner Vorstellung von der aggressiven menschlichen Natur. Er erweitert aber das Konzept, indem er in jedem Individuum eine zweite, soziale Seite sieht. Diese ist von gemeinschaftlichen Motiven geprägt und schafft eine permanente Auseinandersetzung mit der individuellen (aggressiven) Seite. Er versteht den Menschen dualistisch. (Vgl. Bernard 1983: 115) Ralf Dahrendorf bezeichnet sowohl die menschliche als auch die gesellschaftliche Natur als von Konflikten durchdrungen. Jeglicher Zusammenhalt beruht seiner Meinung nach auf Zwängen. (Dahrendorf 1972: 28) Für ihn sind Konflikte feste Bestandteile von Gesellschaften. Er fragt sogar, ob sie generell lebensnotwendig sind. (Vgl. Bernard 1983: 175)
Dem gegenüber stehen bis heute Theorien, welche die menschliche Natur und/oder das gesellschaftliches Zusammenleben primär in gemeinschaftlichen Konzepten erklären. Diese Richtung wird in der Literatur als Konsensustheorie bezeichnet:
Consensus theories are said to include those social theories that emphasize the persistence of shared values and norms as the fundamental characteristics of societies.” (Bernard 1983: 1)
Vertreter hierfür sind zum Beispiel Talcott Parsons und Georg A. Lundberg. Letzterer beschreibt vor allem nichtindustrielle Gesellschaften als stabile Organisationen, die sich in ihrem Lebensraum auf gemeinsame Werte, Vorstellungen und Ziele berufen können:
In such a society, „community“ meant consensus on nearly all things that mattered. … In sum, the residents of a given geographic area had not just a few but many interests in common, and these mutual interests served to integrate the people and to preserve the traditional order. (Lundberg et al. 1968: 520)
Das Verständnis von der Natur des Menschen und der Gesellschaft wird innerhalb der Literatur einmal in Konfliktkonzepten und zum anderen in denen des Konsensus beschrieben. Es wird jedoch mittlerweile vermehrt akzeptiert, dass beide Theorien unter gewissen Umständen ihre Gültigkeit haben. Wird das Zusammenleben mit Begriffen des Konfliktes erklärt, so werden diese vorhanden Aspekte betont. Benutzen Theoretiker Konsensus Konzepte, so betonen sie diese des menschlichen Lebens. Es geht also um Betonung von vorhandenen Aspekten. Letztlich lässt sich die Frage, ob Aggression auf die Natur des Menschen zurückzuführen ist, nicht universell beantworten:
Conflict is an aspect of all past and present human societies, but whether it should be attributed to human nature or to social organizations is not known at present. (Bernard 1983: 213)
Über die Vertreter der verschiedenen Standpunkte schreibt Thomas J. Bernard weiter:
[All] are correct in part, all are partly wrong, non is wholly adequate. Actual societies are held together by consensus, by interdependence, by sociability, and by coercion. (1983: 8)
Für die vorliegende Arbeit ist ein Teil der beschriebenen Debatte von besonderer Relevanz: Die unterschiedliche Einordnung von Konflikten in den beiden Richtungen. C.J. Crouch (2001: 2554/2555) bezeichnet es als die zentrale Entscheidung von Theoretikern Konflikte entweder als Ausnahmezustand oder als endemisches Ereignis anzusehen. Während die Konsensustheoretiker Konflikte als chaotischen Ausnahmezustand ansehen, der überwunden werden muss, sehen Konflikttheoretiker diese als festen Bestandteil menschlichen Interagierens. Diese unterschiedlichen Sichtweisen beeinflussen nicht nur Thesen über Natur des Menschen oder der Gesellschaft. Auch das Verständnis von Konflikten selbst hängt davon ab: Diejenigen die Konflikte als außergewöhnlich ansehen, behaften ihn oft mit störenden und zerstörerischen Attributen. Diejenigen, die Konflikte als endemisch ansehen, behandeln sie eher als potentiell produktiv. Diese Debatte soll nun diskutiert werden.
Konflikt: destruktiv oder produktiv?
Auch der Frage, ob Konflikte primär destruktiv oder produktiv sind, wird ohne eine universell gültige Antwort zu finden nachgegangen. Die Debatte soll in diesem Kapitel beschrieben werden.
Die Geschichte der Konflikttheorie ist vom Gegensatz zwischen jenen Positionen gekennzeichnet, die Konflikte als grundsätzlich dysfunktional oder destabilisierend betrachten und jenen, die Konflikt als ordnungsgenerierend oder produktiv sehen. (Eckert 2004: 7)
Autoren, die Konflikte primär als destruktiv bezeichnen, beschreiben sie oft derart:
Probably the most striking thing about conflict is its destructive potential. The word itself often conjures up images of heads being busted, of buildings burning, and of death and destruction. (Leslie et al. 1973: 78)
Diejenigen, die Konflikte als düsfunktional betrachten, vergleichen ihn häufig mit Begriffen wie Krankheiten, Zwängen, Fehlverhalten oder Störungen des Normalzustandes. (Z. B. Cooley 1956a: 50; Parsons nach Coser 1956: 21; Scherer 1975: 10) Lewis Coser grenzt sich von Autoren wie Talcott Parsons ab indem er Konflikten eine Reihe von positiven Funktionen zuschreibt. Über Parsons schreibt er: „Parsons’ general orientation has led him to view conflict as dysfunctional and disruptive and to disregard its positive functions.“ (1956: 23) Autoren, welche die produktiven Eigenschaften von Konflikten nicht erwähnen, vertreten meistens ein Gesellschaftsbild, welches auf Stabilität und Ordnung beruht. Ein Zitat von Parsons liefert dafür ein Beispiel:
Die funktionalen Erfordernisse des sozialen Systems als Einheit gehören jedoch einer anderen Ordnung an. Unter ihnen bezeugt „Stabilität“ dies am deutlichsten. In gewissem Sinn neigt ein soziales System zu einem „stabilen Gleichgewicht,“ zu einer dauerhaften Erhaltung seiner selbst als System und zur Bewahrung eines bestimmten, entweder statischen oder dynamischen strukturellen Musters. (1986: 160)
Des Weiteren vergleicht Parsons das soziale System mit einem Organismus, der das Ziel hat ein physiologisches Gleichgewicht (ebd.) aufrecht zu erhalten. Autoren wie Parsons betrachten Konflikte als störend für dieses Gleichgewicht. Sie werden als chaotisch außerhalb der normalen Interaktion angesehen. Derartig negativ behaftete Beschreibungen von Konflikten wollen Autoren wie Georg Simmel, Lewis Coser, Ralf Dahrendorf und Georg Elwert die produktiven Aspekte des Konfliktes entgegensetzen. In meinen Augen eignet sich diese Herangehensweise an Konflikte bei der Betrachtung der im Film gezeigten Konfliktsituationen besser. Wie ich später darstellen werde, ist das Austragen von Konflikten in Dassanetch eine alltägliche Erscheinung. Konflikte sind gelernte und normierte Arten der Interaktion in Dassanetch und keine abnormalen Ereignisse, die prinzipiell störende Eigenschaften besitzen. Aus diesem Grund möchte ich acht Thesen von Autoren aus dem Lager, die Konflikte als Teil der Gesellschaft ansehen, erläutern, um sie dann anhand des Filmes zu besprechen. Dabei liefere ich keine vollständige Darstellung der Konflikttheorie sondern gehe vor allem auf Argumentationen ein, die ich mittels des Filmes Siblings in Conflictveranschaulicht sehe. Populäre Thesen wie die, dass Konflikte zu sozialem Wandel beitragen, werden beispielsweise nicht besprochen, da sie keinen fruchtvollen theoretischen Rahmen für das im Film Gezeigte darstellen.
These #1: Normalität
Die erste These, die ich erläutern möchte, lässt sich derart zusammenfassen: Konflikte sind fester Bestandteil menschlicher Interaktionen und keine abnormalen Ereignisse. Nach Georg Simmel braucht jede Gesellschaft
…irgendein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Mißgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen. (1958: 187)
Ralf Dahrendorf behauptet, dass „irgendwelche Konflikte stets und überall dort [zu] finden [sind], wo menschliche Gesellschaften bestehen.“ (1972: 21) Er fährt fort, solche Gesellschaften als abnormal zu bezeichnen, in denen keine Konflikte stattfinden. (Vgl. Bernard 1983: 3) Klaus Rainer Scherer bezeichnet Konflikte als normale und natürliche Prozesse in menschlichen Verbindungen. (Scherer 1975: 281) Julia Eckert bezeichnet sie als „Grundmerkmal jedes menschlichen Zusammenseins.“ (2004: 7) Akzeptiert man diese These so hat es folgende Konsequenz: Konflikte können nicht mehr losgelöst von sozialen und kulturellen Bedingungen betrachtet werden. Sie können nicht als Ausnahmezustand untersucht werden sondern müssen vielmehr in Gesellschaftstheorien und –beschreibungen integriert werden.
These #2: Muster
Die zweite These lautet: Konfliktabläufe folgen vorhersehbaren Mustern. Scherer zufolge laufen Konflikte nach wiederkehrenden Mustern ab. Er versucht den Ablauf von Konflikten in ein Modell von fünf Stufen zu fassen (Vgl. 1975: 270-274): Stufe 1 – Vor der Konkurrenz: Hier befinden sich die Teilnehmer in einem Zustand der Kooperation oder stehen in keiner Beziehung zu einander. Stufe 2 – Konkurrenz: Die Teilnehmer erkennen, dass sie in Konkurrenz mit dem anderen geraten sind. Stufe 3 – Konflikt: Die Akteure gehen mittels der gewählten Strategie in den Angriff über. Diese Stufe kann eskalieren und es besteht die Möglichkeit einer Polarisation. Stufe 4 – Krise: Dies stellt ein neues Level dar, indem es häufig zu Gewalt kommt. Stufe 5 – Lösung: Die Lösung kann vielfältig ausfallen: Es kann zu Stufe 1-3 zurückgekehrt werden oder es kann zur Revolution kommen. Dass Konflikte bestimmten Mustern folgen, macht sie sowohl für die Wissenschaft als auch für die Akteure selbst vorhersehbar. (Vgl. auch Zittelmann 2004: 47)
These #3: Strategie
Konflikte stellen bewusst gewählte Strategien von Akteuren dar. Eine allgemein akzeptierte Meinung ist, dass Aggressionen Teil unserer tierischen Natur sind. (Scherer 1975: 13) Konflikte werden oft von Affekten und Emotionen gesteuert dargestellt. Ethnologische Forschungen versuchen teilweise, diese Vorstellungen zu verändern. Elwert schreibt dazu beispielsweise:
Die populäre Sichtweise, dass Konflikte durch Emotionen motiviert sind, kann von der Anthropologie nicht bestätigt werden. Menschen reagieren weniger auf Emotionen als auf angenommene oder wahrgenommene Handlungsziele. Die Reaktion auf eine Konfliktsituation hat höhere strategische Qualitäten, wenn sie auf kühler Kalkulation und nicht auf Emotionen basiert. (Elwert 2004: 32-33)
An anderer Stelle fasst Georg Elwert diese Gedanken so zusammen: „[Violence] is … a narrowing of the available forms of action and at the same time it is a strategic choice.“ (Elwert et al 1999: 9) Die Autoren argumentieren entgegengesetzt zu den populären Annahmen dahingehend, dass Konflikte nicht instinktive Aktionen sondern Teil einer bewussten Strategie sind. Diese These ermöglicht also, die Konfliktpartner als wählende Akteure zu betrachten. Die Akteure bevorzugen die Austragung von Konflikten anstatt andere potentiell mögliche Alternativen zu wählen. Coser schreibt dazu: „Means other than conflict, depending assessments of their efficacy, are always potentially available to the participants.“ (Coser 1956: 50) Konflikt wird dann als unkomplizierteste Strategie zur Erreichung der gesetzten Ziele bewusst gewählt: “Because of its effectiveness as a means to need satisfaction, aggression is often not turned to as the last resort, but as the first.” (Scherer 1975: 87)
These #4: Beziehung
Je enger die Beziehung zwischen zwei Menschen ist, desto wahrscheinlicher treten Konflikte auf. Diese These wird zunächst dadurch begründet, dass häufiges Zusammensein überhaupt erst Möglichkeiten liefert, in Konflikt miteinander zu geraten. Durch regelmäßige Interaktionen erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass Anlässe für Konflikte auftreten: „The more frequent the interaction, the more occasion for hostile interaction.“ (Coser 1956: 72, Vgl. auch Scherer 1975: 265) oder wie es Citrin ausdrückt: „[T]here can be no conflict between an earthling and the man on the moon.” (2001: 2548) Die These bezieht sich jedoch vor allem auf einen anderen Aspekt. Nicht nur der formale Rahmen des häufigen Zusammenseins gerät in den Blick. Es sind die engen Beziehungen zwischen den Akteuren, welche für die Häufigkeit der Konflikte verantwortlich sind. Simmel, zum Beispiel, sieht in der Intensität von Beziehungen Nährboden für heftige Konflikte:
Je mehr wir als ganze Menschen mit einem anderen gemein haben, desto leichter wird sich unsere Ganzheit jeder einzelnen Beziehung zu ihm assoziieren. Daher die ganz unverhältnismäßige Heftigkeit, zu der sich sonst durchaus beherrschte Menschen, manchmal gerade ihren Intimsten gegenüber fortreißen lassen. (1958: 206)
Er führt die Heftigkeit von Beziehungen auf die Intimität unter den Akteuren zurück. Es gibt zwei Richtungen, welche auf unterschiedliche Weise die oben genannte These vertreten. Die erste meint, dass enge Beziehungen dazu führen, dass Konflikte unterdrückt werden und zu späterem Zeitpunkt intensiviert ausbrechen. Coser schreibt stellvertretend für diese Richtung: „The closer the relationship, the greater the affective investment. The greater also the tendency to suppress rather than express hostile feelings.” (1956: 62) Die Unterdrückung von Konflikten bei Akteuren, die in einem engen Verhältnis zueinander stehen, wird mit der Angst vor dem destruktiven Effekt begründet. (Coser 1956: 68) Die Unterdrückung hilft jedoch nicht auf Dauer und es kommt zu einem besonders intensiven Ausbruch des Konfliktes.
In close-knit groups, feelings of hostility tend, therefore, to accumulate and hence to intensify. If conflict breaks out in a group that has consistently tried to prevent expression of hostile feelings, it will be particularly intense… (Coser 1956: 152)
Die zweite Richtung sagt aus, dass Konflikte in engen Beziehungen zugelassen werden, da diese als stabil genug angesehen werden. Die Akteure sind sich der Enge der Beziehung bewusst, sehen Konflikte daher nicht als potenzielle Gefahr an. Konflikten wird dabei nicht das Potenzial zugeschrieben, enge Beziehungen zu erschüttern. Simmel (1958: 208) argumentiert dahingehend, dass die Teilnehmer vorhersehen, dass ein Konflikt ihrer engen Beziehung nicht viel anhaben kann. Coser beschreibt das so: „If the relationship is stable, if, in other words, the participants feel that it will not be endangered by conflict, conflicts are likely to arise between them.“ (1956: 83) Diese Richtung führt zu folgender Schlussfolgerung: Beziehungen, in denen Konflikte häufig auftreten, können als stabil angesehen werden: „Stable relationships may be characterized by conflicting behavior.“ (Coser 1956: 85)
These #5: Entspannung
Konflikte führen zu einem entspannten Gruppenverhältnis. Diese auf den ersten Blick widersprüchliche These kann mit zwei Argumenten unterstützt werden. Das erste besagt, dass die Gesellschaft durch Konflikte ausbalanciert wird. Coser fasst Simmels Gedanken darüber so zusammen: „Simmel … say[s] that enmities and reciprocal antagonism also maintain the total system by establishing a balance between its component parts.” (1956: 35) Er unterstützt dieses Argument und nennt Konflikte einen Balancemechanismus. (Coser 1956: 84) Durch sie werden unterschiedliche Interessen ausgehandelt und Entscheidungen gefällt oder Kompromisse gefunden.
Das zweite Argument geht davon aus, dass die offene Ausführung von Konflikten das Ausbrechen von aufgestauten aggressiven Emotionen unwahrscheinlich macht. Coser schreibt zu dieser These: „[Conflict]… eliminates the accumulation of blocked and balked hostile dispositions by allowing their free behavioral expression.“ (1956: 39) Es reinigt die Luft, Konflikte auszutragen. Diese These wird meist mit psychologischen Argumenten erklärt. Die Vertreter gehen davon aus, dass aggressive Handlungen kathartische Wirkungen haben: “After a cathartic experience, the individual’s aggressive energy is supposed to have been released and, therefore, he is no longer motivated to be aggressive.“ (Scherer 1975: 94)
Findet eine Unterdrückung der aggressiven Energie statt, so findet nach dieser Theorie das Gegenteil statt: „If the aggressive energy is not released by appropriate releasing stimuli leading to the appropriate aggressive patterns, the aggressive energy will accumulate.” (Scherer 1975: 50) Ähnliche Überlegungen bringen Coser dazu, zu behaupten, je mehr Konflikte ausgetragen werden desto geringer fällt ihre Intensität aus. (1956: 153) Charles H. Cooley fasst dies in einem Satz zusammen: „The unsettled condition is worst of all.” (1956b: 287) Die ungeklärten Zustände bringen die Akteure seiner Meinung nach in größere Probleme als das Austragen von Konflikten. Durch Konfliktaustragung wird die aggressive Energie gezähmt.
These #6: Lernen
Das Verhalten in Konflikten wird gelernt. Um diese These zu erläutern, möchte ich zuerst auf die Begriffe Rolle und sozialer Raumes eingehen. Eine Rolle bezieht sich auf das Verhalten, das von Individuen erwartet wird. Diese beeinflusst das Auftreten des Einzelnen. Der soziale Raum vermittelt dem Akteur Verhaltenserwartungen, die er für die Person passend findet. Diese Prozesse finden in der Interaktion zwischen Menschen statt. Louis A. Zurcher schreibt dazu Folgendes:
Our role enactments are best understood not by linking them to specific physiological and psychological elements, but as products of our social interaction with other people. (1983: 12-13)
Die Vorstellung des symbolischen Interaktionismus geht davon aus, dass wir aktiv Rollen schaffen. Wir entsprechen ihnen nicht nur, sondern wir interpretieren, organisieren, modifizieren und kreieren sie:
Within each setting, we negotiate with other people both our own and their identities. … Identities are compromises we effect between our own self-concepts and the demands of a role in a specific social situation. (Zurcher 1983: 13)
Somit sind auch die Verhaltensweisen von Akteuren Kompromisse zwischen den Differenzen von Eigenintentionen und Rollenerwartung anderer. Diese Erwartungen gehen von dem sozialen Raum aus, welcher den Akteur umgibt: „Social setting refers to the pressures for role conformity put upon the individual by others… in a specific situation.” (Zurcher 1983: 15) Ich möchte jedoch den sozialen Raum nicht auf pressures reduzieren. Viel mehr gehören meines Erachtens auch options, also Möglichkeiten, dazu welche den Akteuren geboten werden. Der soziale Raum liefert nicht nur Einschränkungen sondern er zeichnet sich auch durch Freiräume und Wahlmöglichkeiten aus. Thomas Bierschenk schlägt vor, Gesellschaften nach den Möglichkeiten und Grenzen zu charakterisieren. Er nennt dies Bündelung von Strategien im Angesicht von Konfliktsituationen. (2004: 212)
In dem sozialen Raum werden allgemeine Einstellungen wie Freiheits– und Gerechtigkeitskonzepte verbreitet. (Vgl. Cooley 1956a: 32) Die Werte werden in Kindeszeiten etabliert und durchlaufen keine großen Veränderungen bis ins Alter. (Vgl. Cancian 1976: 354) Diese Normen schaffen einen gemeinsamen Hintergrund:
Norms are internalized during childhood by members of the group, perpetuating common psychological ground and resulting in the protection of group solidarity. (Foster 1988: 181)
Diese Normen bilden nach dieser Aussage das Rückrad für Gruppengemeinschaft und kulturelle Verbundenheit. Robert A. Rubenstein bemerkt dazu, dass diese Normen in sozialen Interaktionen stetig verändert und geschaffen werden.
[C]ulture is driven by the dynamics of the symbolic processes as these are worked out in the activities of social actors. These actors communicate with one another through symbolic acts, and the products of such acts are meanings that social consensus has been made available for exchange. (Rubenstein 1988: 7)
Scherer argumentiert dahingehend, dass wir den kulturellen Normen meist unbewusst entsprechen. Viele unserer Vorstellungen basieren auf einem kulturellen Konsensus. Wir folgen den Normen, weil wir sie als korrektes Verhalten empfinden, weniger, um eine Gruppenkonformität zu entwickeln. (vgl. Scherer 1975: 172)
Wie läuft das Erlernen der Konfliktaustragung ab? Psychologische Studien leisten dazu einen hilfreichen Beitrag. Aggressives Verhalten wird durch a) Beobachtung und Nachmachen und b) selektive Bestärkung gelernt. (Vgl. Scherer 1975: 82) Wächst ein Kind in einem sozialen Raum auf, indem vermehrt Konfliktaustragungen stattfinden, so empfindet es dieses Verhalten als normal. Das Nachmachen der Handlung findet jedoch nicht ohne Eigenbeteiligung statt: „There is no imitation that is absolutely mechanical and uninventive – a man cannot repeat an act without putting something of his idiosyncrasy into it.” (Cooley 1956b: 302) Die Übernahme von Verhalten hängt aus psychologischer Sicht von dem Grad der Belohnung ab:
Whether or not a person will put into practice the novel forms of aggression that he has learned through imitation depends upon whether his aggression is rewarded or not. For aggression, like all other learned behaviors, follows the law of effect: Any organism will tend to repeat a behavior that has been reinforced in the past. (Scherer 1975: 86)
Die in These Nummer Fünf erwähnte kathartische Wirkung einer Handlung führt entsprechend der psychologischen Lerntheorie zu einem Erlernen von aggressiven Akten. Die Lerntheorie will zeigen, dass dasjenige Verhalten angenommen und standarisiert wird, welches den Akteur in irgendeiner Art belohnt. Konflikte, die kathartische Wirkung zeigen gehören dazu.
Since tension reduction is usually considered to be a reinforcer, a cathartic effect of an overtly aggressive act will actually reinforce this behavior. Thus, according to learning theory, catharsis may decrease aggressive motivation in the short run, but actually increase it in the long run. Catharsis may result in the learning of aggressive habits through reinforcement. (Scherer 1975: 99-100)
Kathartische Konfliktaustragungen hätten also zweierlei Effekte: Sie reduzieren Gewalt in Konflikten und gewöhnen die Akteure an das Austragen von Konflikten.
Eine auf den ersten Blick unlogische Erkenntnis der Lerntheorie entpuppt sich als hilfreiches Analysehilfsmittel. Nicht das Verhalten, welches permanent belohnt wird, hat besonders bestärkende Wirkungen sondern viel mehr die intermittierend, unregelmäßig stattfindende Belohnung. Das Kind, dessen Aggression von Zeit zu Zeit belohnt wird, legt in der Regel häufiger aggressives Verhalten an den Tag, als das Kind dessen Aggressionen stets belohnt werden. Scherer erklärt dies so:
If we are accustomed to having to wait for our rewards, we do not give up very quickly if they seem to be a little slower in coming, and it will take a while before we shall give up hope entirely. Thus aggressive behavior does not have to be reinforced every single time to become a firmly established part of an individual’s behavior repertoire. On the contrary, intermittent reinforcement, especially if it occurs irregularly … tends to produce a more stable and persistent habit of aggression. (1975: 91)
Ich will diese These nicht mit zu vielen psychologischen Konzepten und Begriffen erläutern. Zwei Termini muss ich aber noch kurz erwähnen: Der Begriff derReaktionsgeneralisierung bezieht sich auf die Annahme, sobald, wenn ein aggressives Verhalten als erfolgreich und stärkend wirkt, tendieren wir dazu ähnliches aggressives Verhalten auszuprobieren. (Vgl. Scherer: 92) Der Begriff der Reizgeneralisierung bezeichnet Folgendes: Menschen agieren aggressiv in anderen Situationen als in der Situation, in der aggressives Verhalten belohnt und gelernt wurde. (Vgl. Scherer: 106)
Diese und andere psychologischen Untersuchungen werden für den weiteren Verlauf der Arbeit hilfreich sein. An diesem Punkt sei auch erwähnt, dass die Akteure diesen Lernkonzepten nicht willenlos folgen. Sie stellen eine Beeinflussung dar, keine Lenkung:
While…psychic pressures can be very powerful indeed, except in limited conditions they leave the ultimate decision to the subject – the pressures reduce but do not eliminate his freedom. (Etzioni 1976: 680)
These #7: Richtlinien
Der kulturelle Raum bietet Richtlinien zur Konfliktaustragung. Um diese These zu erläutern, ist es hilfreich, die Begriffe Konfliktinstitutionalisierung sowie Ein– und Entbettung vorzustellen.
Einbettung und Institutionalisierung der Konflikte
Gewalt, Aggression und Konflikt werden häufig als „Ausbruch atavistischer Impulse oder Triebe, als antisozial und abweichend betrachtet.“ (Gabbert 2004: 88) Ethnologische Forschungen versuchen vereinzelt das Gegenteil zu beweisen. Selbst Gewaltakte folgen bestimmten Regeln folgen, die kulturell bedingt sind. (Ebd.) Georg Elwert schreibt dazu:
Die Anthropologie hat gezeigt, dass sogar gewaltsame Konflikte kulturell codierten Mustern folgen und institutionalisierte Formen haben, und dass ihre Erscheinungsform kontrolliert und gelenkt ist. (Elwert 2004: 29)
Dieses Phänomen nennt Elwert Einbettung der Konflikte in die kulturellen Normen:
„Unter Einbettung versteht man das Ensemble von moralischen Werten, Normen und institutionalisierten Arrangements, die bestimmte Handlungstypen begrenzen und gleichzeitig das Ergebnis dieser Handlung berechenbar machen. Die Tatsache, dass Konflikte sowohl über kontrollierte und vorhersehbare Aspekte als auch über ein Element von Überraschung verfügen, gibt ihnen eine hybride Struktur. Deshalb könnte man von einer partiellen Einbettung sprechen.“ (2004: 29)
Die partielle Einbettung führt dazu, dass Konflikte nach Elwert sozial geordneten Pfaden folgen. Christoph Zürchner schlussfolgert daraus:
Es gibt also in manchen Fällen Regelwerke, welche die Bandbreite des Möglichen bei der Konfliktaustragung durch sozial konstruierte Leitplanken kanalisieren. Je stabiler diese Leitplanken sind, desto tiefer ist die Konfliktaustragung gesellschaftlich eingebettet. (2004: 102)
Dahrendorf widersprach der Vorstellung, dass Konflikte unterdrückt werden könnten. Er sah aber (wie Elwert) die Möglichkeit, dass sie regulierbar sind um die Gewalt zu reduzieren. „[H]e argued that it is only by providing organized channels for the expression of grievances and hostilities that social life is able to continue.“ (Bernard 1983: 172) Elwert formuliert Ähnliches:
Gegensätzliche Interessen sind zwischen Menschen allgegenwärtig. Wenn es keine geregelten Methoden gibt, dies auszudrücken, werden zufällige Konflikte, und in noch stärkerem Maße deren Meidung die Chance für Kooperation minimieren. Kooperation erfordert nicht Konfliktunterdrückung, sondern berechenbare Möglichkeiten, Konflikte auszudrücken und auszutragen. (2004: 34)
Auch Coser argumentierte, dass es für eine gewaltarme Konfliktaustragung einer Institutionalisierung der Konflikte erfordere:
One safeguard against conflict disrupting the consensual basis of the relationship, however, is contained in the social structure itself: it is provided by the institutionalization and tolerance of conflict. (1956: 152)
Die Institutionalisierung kann man in informalen Regelwerken erkennen. Das Einhalten dieser Regeln wird durch soziale Kontrolle überwacht. Mitmenschen drohen Sanktionen gegen den Akteur an, der die Regeln verletzt. (Vgl. Koehler 2004: 274)
Entbettung
Findet eine Überschreitung der Norm während eines Konfliktes statt, so kann man von einer Entbettung sprechen. Dabei kommt es jedoch meistens nicht zu einer völligen Entregelung der Austragung. Viel mehr findet häufig eine Transformation des Regelsystems statt. Neben dem unkontrollierbaren Merkmal des entbetteten, entregelten Konfliktes gesellt sich auch hier ein potenziell produktives Element: Der entbettete Konflikt kann zu der Entwicklung neuer Normen beitragen:
Entbettung heißt also zuerst – aber meist nicht auf Dauer – die Auflösung von sanktionsfähigen Normen, vielfach dann aber die Etablierung neuer Normensysteme und neuer Sanktionsapparate. (Eckert 2004: 14)
Schon Simmel stellte fest, dass Konflikte zu der Erweiterung von Normen und Regeln führen können:
He [Simmel] implies that in the course of conflict new rules are continuously created and old rules modified. By bringing about new situations, which are partly or totally undefined by rules and norms, conflict acts as a stimulus for the establishment of new rules and norms.” (Coser 1956: 124)
These #8: Produktivität
Gesellschaften, welche Konflikte zulassen, steigern die Produktivität des Konfliktes. Die letzte These baut auf dem zuvor Beschriebenen auf. Sie versucht zu fassen, wie Gesellschaften Konflikte produktiv handhaben können. Viele Autoren vertreten die Meinung, dass kanalisierte Konfliktaustragung zum Wohle der Gemeinschaft beiträgt.
Elwerts Grundthese ist, dass es für den Frieden in einer Gesellschaft umso besser ist, je mehr Konflikte zugelassen und formalisiert werden. Obwohl die Quantität der Konflikte ansteige, mindere sich doch ihre Intensität. (Eckert 2004: 22)
Stark eingebettete Konfliktaustragungen führen zu geringerer Gewaltbereitschaft. Somit ist also nicht der Konflikt als solcher das Problem,
sondern vielmehr, ob und wie Konfliktaustragung durch sozial konstruierte Regelwerke kanalisiert werden kann, oder ob Konflikt zunehmend entregelt und gewaltförmig ausgetragen wird. (Zürchner 2004: 102)
Konflikte wirken vor allem dann destruktiv, wo sie nicht eingebettet sind: „[C]onflict tends to be dysfunctional for a social structure in which there is no insufficient toleration and institutionalization of conflict.“ (Coser 1956: 157) Durch Unterdrückung von Konflikten setzen sich Gesellschaften stärker der Gefahr des „katastrophalen Zusammenbruchs“ aus. (Übersetzt von Coser 1956: 128) Eine gewaltarme Gesellschaft braucht gewissen Spielraum für Konflikte:
Actually, developing and maintaining a nonviolent system [m]ay well require providing sufficient room for legitimate forms of conflict, just as keeping a bicycle upright requires pushing the pedals. (Etzioni 1976: 680-681)
Was nützt Konfliktzulassung den Akteuren?
We conform to role expectations, but make effort to protect our individuality. We create roles, but do so with a realistic sensitivity to relevant social structures. We resolve role conflicts, but are guided in that endeavor by our perceptions of a socially workable resolution. (Zurcher 1983: 15)
Von dieser Feststellung ausgehend lässt sich die Frage möglicherweise beantworten. Konflikt ist ein Mittel, Verhalten auszuhandeln, welches dem Widerspruch zwischen individuellen Zielen und Rollenerwartung gerecht wird. Durch den Weg des Konfliktes hat das Individuum die Möglichkeit trotz bestimmten Rollenerwartungen seine individuellen Ziele zu verteidigen. Toleriert eine Gesellschaft alltägliche Konflikte oder fördert die Gemeinschaft sie gar, so hilft das den Individuen, ihren Zielen nachzugehen. Vor allen die Ziele werden gefördert, die der Rollenerwartung entgegen sprechen.
Zusammenfassung
In dem konflikttheoretischen Teil habe ich relevante Begriffe erklärt, bin auf die Überlegungen eingegangen, ob sich Gesellschaften durch Konflikte oder durch Harmonie auszeichnen. Ich habe Aspekte der Debatte ob Konflikt destruktiv oder produktiv sind erläutert. An dieser Stelle werde ich zuvor Gesagtes zusammenfassend einschätzen, um einen Ausblick zu liefern inwieweit das in diesem Kapitel Dargestellte für den weiteren Verlauf der Arbeit relevant ist.
Die Konflikt-Konsensus-Debatte fragt danach ob sich Menschen und Gesellschaften primär durch Konflikte oder durch Konsensus auszeichnen. Beide Positionen werden in der Literatur bis in die Gegenwart vertreten. Diese Debatte versucht auch zu klären, ob Konflikte auf der menschlichen Natur basieren oder ob gesellschaftliche Strukturen für immer wieder auftretende Konflikte verantwortlich sind. Eine radikale Position (z. B.: Der Mensch ist von Natur aus aggressiv) findet schnell überzeugende Gegenpositionen. Menschen vereinen in sich Bedürfnisse der Harmonie und des Konfliktes. Die Gesellschaft ist sowohl von Konsensusbestrebungen als auch von Konfliktmomenten durchdrungen. Diese Auseinandersetzung ist von rein akademischem Interesse und verläuft sich in ihrer Anwendung oder empirischen Bestätigung schnell im Sand.
Die Frage danach, ob Konflikt primär destruktive oder produktive Auswirkung hat, war zentrales Element dieses Kapitels. Traditionell werden Konflikte als destruktive Elemente außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet. Viele Autoren wirken dem jedoch entgegen, indem sie die produktiven Eigenschaften von Konflikten benennen. Sie gehen dabei auf die stabilisierende Wirkung des Konfliktes für die Gruppe ein und auch auf die Möglichkeit des Einzelnen, durch Konfliktaustragung seine Interessen zu verfolgen. Fazit vieler Akademiker, die derart argumentieren ist, dass es umso besser für eine Gesellschaft sei, je mehr Institutionalisierungen von Konflikten gegeben sind. Folgen Konflikte bestimmten kulturell normierten Bahnen, so wird ihre destruktive Energie eingeschränkt und die produktiven Potenziale am ehesten umgesetzt. Auch in dieser Debatte zeigt sich, dass eine Festlegung darauf, ob Konflikte produktiv oder destruktiv sind, in die Leere führen würde. Konflikte können immer beides sein. Je nachdem wie sie ausgetragen werden entwickeln sie ihre Wirkungen. Während diejenigen, die Konflikte prinzipiell als destruktiv kategorisieren ihn oft als eine Krankheit der Gesellschaft darstellen, sehen andere Konflikte oft als eine Art hilfreiches Übel. Konflikt wird zwar als produktiv eingeschätzt, jedoch häufig im Hinblick darauf, Schlimmeres (z. B. statische Herrschaftsstrukturen, Gewaltausbrüche und Kriege) zu vermeiden. Ein Autor aus diesem Lager nannte Konflikte eine Reaktion aufKrankheiten. (Scherer 1975: 281)
Was ist an diesen Debatten interessant für die Untersuchung des Filmes Siblings in Conflict? Der Film stellt eine Vielzahl von alltäglichen Konflikten in Dassanetch vor. Mittels der aufgestellten Thesen werde ich nun einige der dieser Konfliktmomente analysieren. Ziel ist es auch, die Thesen mittels der im Film gezeigten Konfliktsituationen zu hinterfragen und an manchen Stellen zu erweitern.
Der Film Siblings in Conflict vor dem Hintergrund der Konflikttheorie
Dieses Kapitel hat das Ziel, Konflikte und Konfliktverhalten in dem Film Siblings in Conflict vor dem zuvor beschriebenen konflikttheoretischen Hintergrund zu analysieren. Ich beziehe mich dabei vor allem auf das im Film Sichtbare, gebe jedoch auch an manchen Stellen zusätzliche Informationen, welche dem Filmrezipienten nicht zugänglich sind. Außerdem verweise ich auf das Zusatzmaterial der DVD, wo ich Sequenzen hinterlegt habe, die nicht im Film zu sehen sind, welche aber die für vorliegende Untersuchung relevant sind. Die im konflikttheoretischen Teil aufgestellten Thesen werde ich nochmals erwähnen, sie entsprechend des Kontextes umformulieren und sie dann mithilfe des filmischen Materials diskutieren. Da sich der Film Siblings in Conflict nicht für die Prüfung aller Thesen gleich gut eignet, werde ich manche ausführlich und andere nur knapp besprechen.
Siblings in Conflict und die Normalität These
Die erste These lautete: Konflikte sind fester Bestandteil menschlicher Interaktionen und keine abnormalen Ereignisse. Für den Rahmen meiner Feldforschung möchte ich die Behauptung so umformulieren: In meiner Gastfamilie fanden regelmäßig Konflikte statt und galten als normale Art des Umgangs.
In dem Kapitel über die Hintergründe dieses Projektes habe ich beschrieben, dass ich ursprünglich ein anderes Thema bearbeiten wollte. Dass ich über Konflikte in Dassanetch schreibe und viele Filmaufnahmen derartige Situationen zeigen hat sich vor Ort entwickelt. Ich empfand das Auftreten von Konflikten in meiner Gastfamilie als bezeichnendes Merkmal. Die Häufigkeit der Konfliktaustragung war meines Erachtens auffallend groß. Diesen Eindruck gewann ich zwar schon vor Ort, als Thematik für das Projekt entwickelte es sich jedoch erst in der Nachbearbeitung – bei der Sichtung des Filmmaterials.
Jeden Tag fanden in meiner Gastfamilie Konfliktaustragungen statt: Jeden Morgen, während des Tages, bei jedem abendlichen Melken und immer wenn es Nacht wurde. Worüber gestritten wurde und mit welcher Intensität variierte von Ereignis zu Ereignis. Konflikte waren aber fester Bestandteil der Interaktion. Die in dem Film präsentierten Auseinandersetzungen sind aus dem zur Verfügung stehenden Filmmaterial stark selektiert. Ich habe sie ausgewählt, weil ich sie für Konfliktaustragungen in Dassanetch bezeichnend halte. Unzählige Konflikte aus den 18 Stunden Filmmaterial habe ich nicht übernommen.
Mindestens zwei Sequenzen zeigen, dass die Konflikte parallel neben anderen Formen der Interaktion stattfinden. Zum einen ist das die Sequenz target-oriented conflict over an object. Hier interessieren sich zwei nicht im Bild zu erkennende Person (die Person, deren fordernde Hand zu sehen ist, ist Yendite) für den Besitz zweier Rasierklingen, die Kidoa und ihrer Tochter Noicho gehören. Mehrmals werden die beiden direkt und indirekt aufgefordert diese herauszugeben. Dies geschieht während Kidoa ihrer kleinen Tochter Nakwa die Haare rasiert. Kidoa unterbricht nicht die Handlung, die darauf aus ist, ihre Tochter zu pflegen und frisieren. Yendite fordert während des Konfliktes ein anderes Geschwisterteil dazu auf, nach den Tieren im Haus zu schauen. Der stattfindende Ressourcenkonflikt unterbricht nicht andere Aktionen und Interaktionen. Am Ende der Sequenz habe ich gezielt den Moment gelassen, der keinen Konflikt beinhaltet. Kidoa weist ihre Tochter Noicho (die soeben erfolgreich den Besitz einer Klinge gegen eine größere Schwester verteidigt hat) darauf hin, dass sie durch ihr Zusehen demnächst selbst Haare rasieren kann. Dadurch wird ebenfalls deutlich, dass sich der Konflikt um die Rasierklingen neben anderen Formen der Interaktion ereignet. Neben dem Beschreiben eines zielgerichteten Ressourcenkonfliktes erzählt diese Sequenz also über ein Konfliktereignis welches stattfindet, ohne andere Interaktionen unmöglich zu machen.
Die Sequenz interspecies conflict vermittelt dies auf ähnliche Weise. Hier findet ein Konflikt über Zugangsrechte zwischen Ziegen und Menschen statt. Kidoa fertigt Perlen für ein Ausstellungsstück für das South Omo Research Center an und unterbricht ihre Aktivität nicht, obwohl sie sich am Konflikt (wenn auch nur indirekt) beteiligt. Das Nebeneinhergehen von Konflikten und anderen Formen der Interaktion wird jedoch vor allem durch die Beobachtung mit der Kamera vermittelt. Abwechselnd beobachtet sie Szenen des Konfliktes und Szenen der Perlenherstellung. Die Aufnahmen sind (bis auf die der kleinen Nakwa, die Perlen auf einem Stock aufreiht) in dieser Reihenfolge gedreht wurden. Das abwechselnde Interesse meinerseits als Kameramann für den Konflikt und für das Perlenherstellen beruht auf dem Nebeneinhergehen der Ereignisse und verweist auf ihre zeitliche Parallelität. Beide Ereignisse schließen sich auch hier nicht aus. Da die Sequenz stark verkürzt ist, habe ich die ungeschnittene Version in Nummer sechs im Zusatzmaterial angehangen. Dort ist die Parallelität der Ereignisse noch deutlicher zu erkennen.
Die These, dass Konflikte integrierter Bestandteil menschlicher Interaktionen und keine unnormalen Ereignisse sind, wird durch meine Feldbeobachtungen und durch den Film Siblings in Conflict somit für Dassanetch bestätigt.
Siblings in Conflict und die Muster These
Die zweite These lautete: Konfliktabläufe folgen vorhersehbaren Mustern. Die von Scherer aufgestellten Stufen sind auch in einigen Konflikten in Siblings in Conflictwiederzuerkennen. Als Beispiel möchte ich hier die Sequenz siblings of different ages untersuchen. Die Stufe eins Vor der Konkurrenz bezieht sich auf die Beziehung zwischen Yendite und Ankoi vor Beginn des Spieles. In der Sequenz ist diese Stufe nicht sichtbar, da die Aufnahme während des Spieles beginnt und beide Parteien schon miteinander konkurrieren. Die Stufe zwei beinhaltet das Erkennen der Konkurrenz. Beide wollen den Spielsieg erreichen. Nur einer von beiden kann dies schaffen womit Ankoi und Yendite unmittelbar bei Spielbeginn in Konkurrenz zu einander geraten. Die dritte Stufe, die Konfliktaustragung,beginnt als Ankoi Yendite vorwirft die Spielregeln zu verletzen und beide um das Privileg des nächsten Schrittes streiten. Die vierte Stufe, die Krise, tritt ein als nicht mehr klar ist ob das Spiel weiterhin ausgetragen wird, da beide ihre Positionen verteidigen. Zwischen diesen beiden Stufen schwankt dann der weitere Verlauf. Die Lösung ist schließlich der Sieg Yendites.
Auch die anderen präsentierten Konflikte enthielten die meisten der beschriebenen Stufen. Im Film selbst sind jedoch meistens nur Stufe drei bis fünf zu sehen.
Siblings in Conflict und die Strategie These
Die dritte These lautete: Konflikte stellen bewusste Strategien von Akteuren dar.Diese Behauptung will vor allem ausdrücken, dass Menschen nicht von ihrem Unbewussten zu Konflikten gezwungen werden, dass sie nicht auf Konflikte zurückfallen, sondern dass sie sich bewusst für das Mittel entscheiden. Anhand von reinen Beobachtungen, auch die, welche per Medium Film vermittelt werden, lässt sich diese These nicht beweisen. Warum die Akteure Konflikte austragen, ist im Film nicht eindeutig erkennbar. Es besteht jedoch die Möglichkeit Hinweise wahrzunehmen, welche die Entscheidung der Akteure beeinflussen.
Die Austragung des Konfliktes aufgrund einer strategischen Entscheidung lässt sich in der Spielsequenz siblings of different ages ersehen. Ankoi weist Yendite mehrmals daraufhin, dass sie vorsätzlich falsch spiele. Yendite wehrt sich gegen diese Vorwürfe. Es kommt zu Streitgesprächen und Schlägen. Ziel beider Parteien ist es offensichtlich, das Spiel zu gewinnen. Diese Intention wird von beiden verbal geäußert. Das Verwenden des Konfliktes ist eine strategische Wahl um das Ziel zu erreichen. Es ist eine Spielstrategie.
Die Sequenz interspecies conflict führt zu ähnlichen Vermutungen: Ankoi vertreibt mit Schlägen die Ziegen aus den Häusern. Er weiß, dass er dadurch die Ziegen (zumindest für eine gewisse Zeit) effektvoll vertreibt. Das Interesse der Ziege, nämlich das Privileg sich im Haus aufhalten zu dürfen wird durch diese strategische Entscheidung zunichte gemacht. In Sequenz Nummer Sieben des Zusatzmaterials sehen wir Ankoi, wie er einen Hund aus meinem Haus vertreibt. Danach steht der Hund vor dem Haus und schwankt sichtbar zwischen einem erneuten Hineingehen und dem aufgebenden Verlassen der Szenerie. (Er blickt abwechselnd zum Haus und in Richtung Ankoi.) Nachdem Ankoi verbal den Hund erneut warnt, zieht er sich zurück. Sein Zurückziehen zeigt, das es seine Strategie ist, das Mittel Konflikt nicht zu wählen. Ähnlich wie bei der Sequenz, die ich zuvor beschrieb, ist es Ankois Strategie den Konflikt als Mittel zu nutzen den Hund zu vertreiben. Zudem gebe ich ihm eingangs den Auftrag diese Aktion auszuführen.
Bei anderen Konflikten, etwa die während des Melkens ist ein Zurückführen auf strategische Entscheidungen nicht möglich. Dass sie nicht auf Strategien zurückzuführen sind, also affektive Handlungen sind, jedoch auch nicht. Diese These ist, wie eingangs erwähnt, durch den Film oder durch Beobachtungen nicht konsequent zu bekräftigen. Hierfür wären formelle und informelle Gespräche nötig, die ich vor Ort zu diesem Zweck nicht geführt habe.
Siblings in Conflict und die Beziehung These
Die vierte These lautete: Je enger die Beziehung zwischen zwei Menschen ist, desto wahrscheinlicher treten Konflikte auf. Um sie auf den Film zu spezialisieren, formuliere ich sie so: Familienmitglieder, die in enger Beziehung zueinander stehen, geraten häufiger in Konflikte als Familienmitglieder die distanziertere Beziehungen haben.
Alltägliche Aufgaben in meiner Gastfamilie sind entsprechend des Alters und Geschlechtes auf die Mitglieder verteilt. Die meiste ist der älteste Sohn, Loichama, gemeinsam mit der zweitältesten Tochter, Kolochon, nicht im Gehöft der Familie. Sie sorgen für die Ziegen und Rinderherden weiter im Süden des Landes. Yendite, die älteste Tochter, übernimmt eine Vielzahl von Arbeiten in der näheren Umgebung des Hauses. Die Söhne Karre und Willie erfüllen die Aufgabe des Hütens der Ziegen, die zum Zwecke der Milchgewinnung im Gehöft gehalten werden. Beide verlassen morgens mit den Ziegen das Dorf, kehren zur Mittagszeit zurück und verlassen das Gehöft wenig später erneut, bis zum Abend. Somit ist Yendite die meiste Zeit mit den jüngsten Geschwistern zusammen, während die älteren lange außerhalb des Gehöftes sind. Die Geschwister verbringen den Alltag in unterschiedlichen sozialen Räumen, die nach Alter und Geschlecht aufgeteilt sind.
Die meisten Konflikte ereigneten sich zwischen denjenigen, die häufig zusammen waren. Karre stritt sich besonders oft mit Willie und vor allem während des Ziegenhütens. Ankoi, Arba Nech und Noicho gerieten Tag für Tag in der Umgebung des Hauses in Streitigkeiten. Wie bereits im theoretischen Teil erwähnt, bietet häufiges Zusammensein oft Anlässe für Konflikte. Die These beruft sich aber nicht primär auf diese Feststellung. Vielmehr diskutiert sie die Behauptung, dass Menschen sich eher auf Konflikte einlassen, wenn sie eine enge Beziehung zueinander haben. Dies soll nun diskutiert werden.
Als ich Ankoi zu einer einwöchigen Reise nach Jinka mitnahm, vermisste er vor allem zwei Personen aus seinem sozialen Raum: Seine Mutter und seinen jüngeren Bruder Arba Nech. Zu Hause spielte und interagierte Ankoi am häufigsten mit Arba Nech. Ging einer von beiden zum Fluss folgte der andere fast immer. Konflikte auszutragen war ein fester Bestandteil der Interaktion zwischen beiden. Die Szene testing determination zeigt eine Konfliktsituation, die nicht zwischen beliebigen Personen ausgetragen werden kann. Ankoi und Arba Nech sind Brüder, die alterstechnisch am nächsten zueinander stehen. Ungewöhnlich wäre eine solche Konfliktaustragung zwischen Parteien, die formal weniger Nähe zueinander haben als zum Beispiel Arba Nech und Loichama. Loichama, als der deutlich Ältere, würde Arba Nech keine gleichen Rechte während der Konfliktgestaltung eingestehen. Er würde nicht darauf warten, ob Arba Nech die Initiative übernimmt. Die Beziehung zueinander beeinflusst die Austragung. Hierarchien beeinflussen das Einsetzen von Mitteln in Konflikten. Die Sequenz siblings of different ages zeigt dies. Hier dominiert die Älteste (Yendite) den Ablauf. Sie droht, schimpft und bestraft ihre kleineren Geschwister. Die Gegenwehr fällt nur marginal aus – durch Davonlaufen von Arba Nech und Jammern im Fall von Ankoi. Große hierarchische Unterschiede vermindern die Austragung von Konflikten, da der Ausgang von der Stellung der Parteien vorgeschrieben wird. Wenn Nyabbanga seine Söhne auffordert Dinge zu bringen, so verbietet es die Stellung seiner Söhne diese Forderung zu verneinen, was zu einem Konflikt führen könnte. Formale Distanz hemmt die Entwicklung von Konflikten. Formale Nähe fördert im Gegensatz dazu, wie wir gleich sehen werden, das Austragen von Konflikten.
In Dassanetch geht formale Nähe meist einher mit engen Beziehungen. Jungen, die derselben Altersklasse angehören, verbringen die meiste Zeit ihres Alltages miteinander und entwickeln ein relativ starkes Gruppenzugehörigkeitsgefühl. (Siehe hierzu Almagor etc.) Formale Nähe führt auch innerhalb meiner Gastfamilie zu engen Beziehungen. So besteht zwischen Noicho und Ankoi eine Distanz, obwohl sie etwa gleichen Alters sind, da ihre Mütter unterschiedliche Personen sind. Formale Nähe und Distanz führen nicht automatisch zu engen bzw. distanzierten Beziehungen. Vielmehr entwickelt sich die Tiefe der Beziehung durch alltägliche Interaktionen. Ein Beispiel hierfür wäre die tägliche Essensverteilung. Kidoa kocht für ihre zwei Töchter und Nakwa für ihre Kinder. In der Regel wird Essen zwischen den Teilfamilien nicht ausgetauscht. Es ist üblich, dass Noicho ihrer Schwester Nakwa tini Essen abgibt und das die Kinder Nakwas untereinander teilen. Schwieriger ist es, wenn ein Kind der einen Teilfamilie Nahrung von der anderen möchte. Dann wird das Essen in der Regel verteidigt. Noch stärker ist dies der Fall, sobald ein Kind von außerhalb der Familie nach Nahrung fragt. Die achte Sequenz des Zusatzmaterials zeigt eine derartige Situation: Ankoi gibt freiwillig seine gekochte Hirse an Arba Nech ab, verteidigt sie aber vehement gegen ein Kind welches nicht der Familie angehört. Die enge Beziehung zwischen Akteuren wird durch Teilen, distanzierte Beziehungen durch gegenseitige Verweigerungen gestärkt.
Auf der einen Seite teilen Personen, die eine enge Beziehung zueinander haben, Zugänge. Auf der anderen Seite tragen sie häufig Konflikte untereinander aus. In Dassanetch bestehen Wirtschaftseinheiten, die relativ abgeschlossen sind. Ein Beispiel ist die Familie, die eigenständig ihre Nahrung produziert oder individuell einhandelt. Personen die nicht der Familie angehören oder integriert wurden sind haben keinen alltäglichen Anspruch auf das Erwirtschafte. Dieser Konsensus führt dazu dass Einheiten wie die Familie im Alltag nicht zu Abgaben an Fremde verpflichtet sind.
Verhältnismäßig tabuisiert ist auch das Fragen nach Ressourcen zwischen kleineren benennbaren Einheiten, wie die Teilfamilie. Das Fragen nach Essen, welches in Nakwas Haus gekocht wurde, wird von den Kindern Kidoas nur unter bestimmten Voraussetzungen akzeptiert. Ein Beispiel ist, wenn Kidoa aus Gründen der Abwesenheit nicht für die Kinder kochen konnte. Ähnlich verhält es sich mit altersorientierten Einheiten. Die älteren Söhne essen untereinander, ebenso ältere Töchter und die kleinen Geschwister. Meist erhält jede dieser Einheiten eine eigene Kalebasse mit Nahrung. Nur selten kommt es vor, dass eine Einheit Rechte auf die Kalebasse der anderen hat. Ein Fragen danach wird als nicht normiert angesehen und erfährt meist Ablehnung.
Standbild Nr. 8: Die Teilfamilie als Ressourcenbeschützende Einheit: Kidoa und ihre Töchter verteidigen gemeinsam ihre Rasierklingen gegen Personen außerhalb der Teilfamilie.
Die Kultur der Dassanetch beinhaltet somit die Vorkehrung, dass es nicht regelmäßig zu Forderungen unter formal distanzierten Mitgliedern kommt. Zielgerichtete Konflikte werden zwischen Akteuren mit formal distanzierten Positionen nicht gefördert sondern durch kulturelle Vorstellungen tabuisiert. Mit der zuvor beschriebenen Überlegung, dass durch alltägliche Interaktionen formale Nähe in der Regel auch zu nichtformaler Nähe führt, lässt sich dies nun übertragen: Personen die eine distanzierte Beziehung zueinander haben können tendenziell weniger auf kulturelle Normierungen von Konflikten zurückgreifen. Konflikte zwischen solchen Akteuren finden daher tendenziell seltener statt. Um diese Aussage dem Wortlaut der anfänglichen These anzupassen: Personen die eine enge Beziehung zueinander haben können in Dassanetch auf kulturelle Normierung von Konflikten untereinander aufbauen und tragen daher Konflikte häufig aus. Gemeinsame Zugangsrechte führen ebenso wie normiertes Teilen immer wieder zu auftretenden Konflikten die normierte Rechtfertigungen finden.
Es trifft zu, dass Konflikte in engen Beziehungen ausgetragen werden und dann meist eingebetteten Pfaden folgen. Somit passt die Argumentationsrichtung, die behauptet, dass Konflikte in engen Beziehungen häufig ausgetragen werden, weil die Akteure keine ernste Erschütterung befürchten. Die hier besprochene These bestand im theoretischen Teil vor allem aus Argumenten, die auf den individuellen Akteur zurückzuführen sind. Die empfundene Nähe sei dafür verantwortlich ist, dass Personen die sich nahe sind miteinander Konflikte austragen. In diesem Kapitel schlug ich vor, dass kulturelle Normenverantwortlich sind, dass zueinander nahe stehende Akteure Konflikte häufiger austragen als Personen mit distanzierten Beziehungen. Dies soll den Inhalt der ursprünglichen Diskussion der These nicht bestreiten, sondern ihn mittels ethnologischer Perspektive erweitern.
Siblings in Conflict und die Entspannung These
Die fünfte These lautete: Konflikte führen zu einem entspannten Gruppenverhältnis. Als Argument für diese These wurden vor allem zwei Punkte vorgetragen. Erstens: Konflikte sind Balancemechanismen innerhalb einer Gruppe. Dies beinhaltet, dass Konflikte helfen, unterschiedliche Interessen zu organisieren. Zweitens: Konfliktaustragungen haben kathartische Wirkungen. Sie reinigen also innere Empfindungen und Zustände der Akteure, sodass weniger Konflikte durch Aufstauung eskalieren. Um die These nun an dem Film zu prüfen, soll sie so umformuliert werden: Das Austragen von Konflikten hilft, die unterschiedlichen Interessen der Familienmitglieder zu balancieren. Ausgetragene Konflikte verringern das Risiko der Eskalation.
In der Sequenz target-oriented conflict over milk kommt es häufig vor, dass sich Kinder über den Zugang zu Milchrechten streiten. Ankoi und Noicho streiten in einer Einstellung darüber, wem der Zugang zu dem Euter zusteht. Damit diskutieren sie, welche Familie die Rechte an dieser Ziege innehat. In der Tat wurde die Ziege Kidoas Familie zugeschrieben, ist also Noicho zugeordnet. Schließlich gibt Ankoi nach und will in Noichos Hand melken. Hier wird deutlich, wie durch das Mittel Konflikt unterschiedliche Interessen der Familienmitglieder wieder aus- bzw. einbalanciert wurden.
Auch in der Sequenz siblings of different ages findet eine Einbalancierung statt: Yendite interpretiert die Spielregeln zu ihren Gunsten, woraufhin Ankoi ihr dies vorwürft. Sie wehrt sich vehement mit verbalen Aussagen und harmlosen Schlägen. Er weist sie sooft auf ihren Betrug hin, bis Yendite ihm das Recht eingesteht, den nächsten Schritt zu machen. Durch den Einsatz verschiedener Konfliktmittel (Androhungen, Streitgespräche, Schläge) wird auch hier ein Kompromiss zwischen den beiden sich ausschließenden Zielen (beide wollen gewinnen) gefunden.
Das zweite Argument der These beruft sich auf den kathartischen Effekt des Konfliktes. Das Austragen von eingebetteten Konflikten mindert die Gefahr von Eskalationen. Die Sequenz from conflict to fight bestätigt die Behauptung, dass nicht ausgetragene Konflikte Eskalationen auslösen können. Nachdem Willie von seiner Mutter geschlagen wurde, läuft er weinend davon. Zwar schmeißt er mit einem Stock nach ihr, jedoch aus sicherer Distanz. Zudem verfehlt er um Weiten die Mutter, was bei dem treffsicheren Willie zu der Annahme führen muss, dass er sie nicht treffen wollte. Danach gehen beide einander aus dem Weg. Erst nachdem die Mutter den Kraal verlassen hat, kehrt er zurück. Dann setzt er sich ruhig hin und hilft beim Melken. Dass er seine Frustration noch nicht abgebaut hat, legt der darauf folgende Kampf mit seinem jüngeren Bruder Ankoi nahe. Er zerschmeißt einen Ball um Ankoi zu provozieren, woraufhin beide Gewalt gegeneinander anwenden. Die These, unausgefochtene Konflikte führen zu Aufstauung von aggressiven Impulsen, die dann unkontrolliert ausbrechen, wird in dieser Sequenz veranschaulicht. Wie in der Erläuterung der letzten These deutlich wurde, werden Konflikte zwischen Akteuren ausgetragen, die sich nahe stehen. Die wenigen Eskalationen die sich während meines Aufenthaltes ereigneten fanden zwischen Personen mit relativ distanzierter Beziehung statt. Zwar sind Ankoi und Willie altersmäßig nicht viel weiter entfernt voneinander als Ankoi und Arba Nech, jedoch trennt die beiden eine soziale Stufe: Während Ankoi noch zu Hause bleibt, die Frisur eines Kleinkindes trägt und noch nicht regelmäßige Aufgaben übernimmt so ist Willie tagtäglich für die Ziegen verantwortlich und trägt die typische nigen (kleine Jungen) Frisur und ein Tuch um die Hüften. Der einzige weitere beobachtete eskalierte Konflikt fand zwischen einer jungen Mutter aus Aoga und einer älteren Frau statt, die wenig im Alltag miteinander interagierten. Bei distanzierten Beziehungen sind Konflikte nicht so stark eingebettet und werden daher seltener ausgetragen. Meine Beobachtungen zeigten, dass dann Konflikte eher der Gefahr der Eskalation ausgesetzt sind.
Standbild Nr. 9: Die soziale Distanz der beiden Brüder wird durch Kleidung und Frisur ausgedrückt.
Der umgekehrte Fall der These ist nicht mit Einzelbeobachtungen allein zu bestätigen. Es ist nicht möglich anhand einzelner Konfliktaustragungen zu sagen, dass diese kathartische Wirkung hat. Jedoch konnte ich während meiner gesamten Feldforschungsperiode feststellen, dass Konflikte zwischen den Parteien, die regelmäßig miteinander Konflikte ausgetragen haben erstaunlich selten eskalierten. Die häufigen Konflikte zwischen den Geschwistern verminderten daher vermutlich die Gefahr von Gewaltausbrüchen in der Familie.
Zu dieser unbewussten gewaltreduzierenden Wirkung von Konflikten möchte ich noch eine bewusste Auswirkung erwähnen, die ebenfalls Gewaltausbrüche unwahrscheinlicher macht. Das Konfliktverhalten von Noicho und Arba Nech in der Sequenz approaching limits dient dabei als Ausgangspunkt. Durch das Aneinanderschlagen der Köpfe kommt Noicho an die Grenze ihrer physischen Belastbarkeit. Noicho fordert Arba Nech dazu auf, sein Verhalten zu reduzieren. Nach dem Schlagabtausch pegelt Noicho die Intensität der Schläge ein, auf ein in ihren Augen erträgliches Maß. Wenig später, nachdem sie Arba Nech zur Mäßigung aufforderte, fängt sie selbst wieder mit dem Aneinanderschlagen der Köpfe an, jedoch nur so lange bis Arba Nech erneut seine Stirn zum Schlagen benutzt. Indem die beiden rau miteinander und mit sich selbst umgehen, erfahren sie ihr Verständnis von dem was in Konflikten akzeptabel ist. Sie pegeln ihr Verhalten darauf ein, dass es nicht zu Gewaltanwendung kommt. Die Theorie der Katharsis lässt die Personen oft willenlos erscheinen. Durch die Konfliktaustragung verringere sich der aggressive Energieanteil in der Person. Die Sequenz approaching limits legt jedoch, wie ich angedeutet habe, auch nahe, dass den Akteuren durch Konfliktaustragung bewusst wird, wo die Grenze des akzeptablen Konfliktverhaltens liegt. Dieses Bewusstwerden führt dann zu einem Einhalten der Grenze. Die Gefahr des Gewaltausbruches wird minimiert, indem durch konfliktreiche Interaktion auf die Konsequenzen von Gewalt hingewiesen wird. Die Gewalt erhält ein Gesicht, das von Konflikten unterscheidbar wird.
Siblings in Conflict und die Lernen These
Für die These Das Verhalten in Konflikten wird gelernt bietet der Film Siblings in Conflict eine Vielzahl von Beispielen. Dass kleine Kinder durch Beobachtungen Verhalten lernen, legt die Sequenz siblings of different ages nahe. Hier sehen wir in einer Nahaufnahme Nakwa tini, die mit großen Augen ihren Geschwistern beim Streiten und Schlagen zusieht. Ihr aufmerksamer Blick suggeriert, dass die Beobachtungen Gedanken auslösen. Durch ihren Blick auf die interagierenden Akteure aus ihrem engen sozialen Umfeld wird veranschaulicht, was häufig in ethnologischen Werken beschrieben wird: Das soziale Umfeld, in dem Kinder aufwachsen liefert den Rahmen für Normen und Wertevorstellungen welche sie in ihrer Entwicklung mit bestimmten Modifikationen übernehmen.
Standbild Nr. 10: Die kleine Nakwa beobachtet das Konfliktverhalten ihrer Geschwister.
Verhalten in Konflikten wird durch verbale Äußerungen und durch Beobachten in Dassanetch von früh an gelernt. Die Geschwister wachsen in einem sozialen Raum auf, wo Konfliktaustragungen bis zu einem gewissen Alter nicht gebremst werden. Als Nabario in der Sequenz a mother and her youngest auf ihre Mutter zuläuft um sie mit einem Stock zu schlagen stellt Nakwa nur fest, dass sie gekommen ist, ihre Mutter zu schlagen. Unmittelbar danach streichelt sie ihre Tochter und stillt sie. Nabarios (Konflikt-) Verhalten wird belohnt. Der Theorie der Reizgeneralisierung zufolge wird Nabario Ähnliches in anderen Situationen ausüben. Sie lernt normiertes Verhalten in Konflikten. In der Sequenz siblings of different ages schlägt sie mit einem Ast Noicho, ohne auch hier Gegenwehr zu erfahren. Das Rohmaterial beinhaltet noch viele weitere Momente dieser Art, in welchen Nabario für Schlagen im Speziellen und Konfliktverhalten im Allgemeinen nicht bestraft sondern gelobt wird. Sequenz Nummer drei der Zusatzsequenzen zeigt, wie sie einen toten Käfer mit einem Stein zerschlägt. Daraufhin kommentiert ihre Mutter das amüsiert. Jedoch soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass Nabario niemals Widerstand auf Konfrontation spüren musste. In der Sequenz Nummer vier des Zusatzmaterials ist Nakwa zu sehen, die mit einem Stöckchen Nabario leicht auf den Kopf schlägt und Weiteres androht. Momente wie diese haben jedoch der Lerntheorie zufolge keine schwächende Wirkung in Bezug auf das Erlernen von Konfliktausübung. Im Gegenteil: Dadurch, dass Verhalten nicht regelmäßig belohnt wird, sondern auch hin und wieder ohne Erfolg ausgeübt wird, ist das Erlernen von Konfliktverhalten stärker. Die Behauptung, dass unregelmäßig belohnte Konflikte zu einer Festigung dieses Verhaltens führen, ist nach meinen Eindrücken sehr hilfreich. Immer wieder beobachtete ich Kinder die Milch, Wasser oder andere Nahrungsmittel forderten. In dem Film sehen wir auch häufig derartige Momente. Oft konnten die Forderungen aufgrund von Knappheit der Güter nicht erfüllt werden. Dennoch oder vielmehr gerade deswegen waren Fragen nach Ressourcen alltägliche Ereignisse die von allen Kindern der Familie regelmäßig geäußert wurden.
Standbilder Nr. 11 & 12: Kleine Kinder, wie Nabario, dürfen sich in Konflikten üben ohne Gegenwehr zu sprüren.
Das Lernen von Konfliktverhalten findet auch auf ganz offensichtliche Art und Weise statt. Sequenzen eins und zwei im Zusatzmaterial zeigen dies: In der ersten Sequenz hören wir Yendite direkte Anweisung über Konfliktverhalten geben. Sie sagt „Wenn du etwas willst, weine nicht danach! Durch Weinen erhältst du gar nichts.“ Diese Aufforderung ist Arba Nech gewidmet, der in Ihren Augenunpassendes Konfliktverhalten an den Tag legt. Die Aufforderung ist Beispiel für offensichtliches Lehren von Konfliktverhalten. Sequenz Nummer zwei zeigt Noicho wie sie weinend und schreiend Karre hinterher rennt, um den gull(Laufstock) zurückzuerhalten, mit dem sie zuvor gespielt hat. Karre benützt den Stock jedoch augenblicklich zum Eintreiben der Ziegen. Eine ältere Frau (es ist Kidoas Mutter, also Noichos Großmutter) läuft in das Bild und weist Noicho daraufhin, dass sie als Mädchen nicht nach dem Stock verlangen soll. Hier wird zum einen deutlich, dass geschlechtsspezifische Rollen das Verhalten auch in Konflikten prägen. Zum anderen verdeutlicht diese Sequenz wie Verhalten in Konflikten angelernt wird. Ein Konflikt zwischen einer erwachsenen Frau und einem Mann, in welchem die Frau dem Mann nachläuft um seinen Stock zu haben, ist in Dassanetch nur schwer vorstellbar. Noicho wird dies in der Sequenz versucht abzulernen. Ihr wird ihre Rolle beigebracht, womit sich Noicho nur widerwillig anfreundet.
Rollenerwartungen sind darauf aus, gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten dem Einzelnen anzugewöhnen. Dies beinhaltet Verbote wie Möglichkeiten. Oft sind die Akteure mit der Erfüllung von Rollenerwartung einverstanden und entsprechen ihr. Hin und wieder führen sie jedoch auch zu Konflikten. Der soziale Raum, in dem die Kinder in Dassanetch groß werden bietet eine Reihe von Möglichkeiten Konfliktverhalten zu erproben und zu erlernen. Das Gelernte steht den Erwachsenen später zur Verfügung, um die unterschiedlichen Interessen auszubalancieren. Da die Kinder in einem Raum aufwachsen, wo sie von einer Vielzahl von Personen umgeben sind, ist die Erziehung wie auch das Erlernen von Konflikten, keine reine kernfamilieninterne Angelegenheit. Es ist von gesellschaftlich akzeptierten Normen beeinflusst. Diese Normen werden, wie im konflikttheoretischen Teil dieser These erläutert wurde, durch Interaktionen im Alltag modifiziert und erstellt. Auch hierfür liefert der Film Siblings in ConflictBeispiele. Die Sequenz argument zeigt, wie sich Nakwa mit einem Mann über die Auslegung von Werten unterhält. Beide interpretieren sie unterschiedlich und es findet ein typischer Normenkonflikt statt. Aber auch in der Sequenz interspecies conflict sind Kidoa und ihre Tochter Noicho über das Auslegen von Richtlinien anderer Meinung. Kidoa findet das Noicho alt ist und immer einen Rock tragen soll. Ankoi ist offensichtlich auch dieser Meinung. Noicho möchte dem jedoch nicht entsprechen und wehrt sich dagegen.
Siblings in Conflict und die Richtlinien These
Der kulturelle Raum bietet Richtlinien zur Konfliktaustragung. Diese These argumentiert dahingehend, dass Konflikte in kulturelle Normen eingebettet sind. Daher formuliere ich die These so um: In Dassanetch sind Konflikte in kulturelle Normen eingebettet.
Auf die Einbettung der Konfliktaustragung gibt es in dem Film Siblings in Conflicteine Vielzahl von Hinweisen. Einige davon sollen hier dargestellt werden.
In der Sequenz interspecies conflict treibt Ankoi Ziegen aus den Häusern. Er benutzt dabei einen Stock (totch). Das erste Mal geht er in das Haus, treibt die Ziegen heraus und scheucht sie davon. Beim zweiten Mal wird die Ziege von Arba Nech festgehalten und drei Jungen schlagen sie mit Stöcken. Diese Aktivität lockt noch weitere Kinder an. Kidoa, die im rechten Bildrand angeschnitten zu sehen ist und das Ereignis aus einer geringen Distanz beobachtet, ruft den Kindern zu: „Hört auf, es ist genug!“ Für Kidoas Verständnis überschreiten die Kinder die Norm. Sie fordert sie auf, die Austragung zu beenden. Diese Aufforderung verweist auf ein Verständnis von angemessener und unangemessener Konfliktaustragung. Sie ist ein Zeichen für die Einbettung der Konflikte in kulturelle Normen. Hier im speziellen Fall wurde die Ziege aus Kidoas Sicht zur Genüge bestraft. Weitere Maßnahmen entsprächen nicht der Norm. Der Konflikt drohte eine Entbettung zu erleben.
Die argument Sequenz beschreibt, was in dem theoretischen Teil benannt wurde. Normen sind nicht statisch sind und nicht alle Mitglieder der Gesellschaft besitzen dieselben Vorstellungen. Ein im Film nicht identifizierter Gast fordert Nakwa dazu auf, ihr Kind und das von Kidoa zu schlagen. Er stellt die Forderung, da die Kinder nicht die Ziegen eingetrieben haben und dies nun Nakwa selbst tun muss. Nakwa entgegnet darauf, dass die beiden Kinder zu klein sind geschlagen zu werden. Der Gast verneint die Antwort vehement. Nakwa sagte mir in einem informellen Gespräch, das Mädchen ab dem Alter indem sie Röcke tragen geschlagen werden könnten, und auch dann immer nach bestimmten Regeln. Der Mann vertritt die Meinung, dass man sich über solche Dinge keine Gedanken machen sollte. Er ist der Auffassung, dass Normen über das Schlagen von Kindern freier ausgelegt werden sollten.
Die Sequenz argument, blows & social consensus zeigt wie Normen vermittelt werden und welche Wirkung sie haben. Der Konflikt findet hauptsächlich zwischen Yendite und Noicho statt. Yendite möchte in ihrer Konstruktion eines Modellgehöftes nicht gestört werden und Noicho möchte nach ihren Vorstellungen mitbauen. Yendite fordert Noicho auf sich nicht an dem Bau zu beteiligen und schlägt sie zur Untermauerung. Noicho lässt sich nicht davon abbringen. Die Konfliktaustragung bleibt auf diesem Level. Links und rechts neben Yendite sitzen zwei Personen: eine Mutter und ihre Tochter. Beide bestärken Yendite darin, sich gegen Noicho zur Wehr zu setzten. Die Mutter rät ihr sie zu schlagen, falls sie sich einmische. Die Tochter weist die Teilnehmer darauf hin, dass man mit Noicho immer so umspringen müsse. Die beiden bestätigen dass Yendite sich angemessen – normengerecht – verhält. Ihr Benehmen wird nicht kritisiert. In dieser Sequenz taucht der Hinweis auf, dass die Normen nicht von allen Mitgliedern einheitlich verstanden werden. Die Frau, rechts vom Bild weist darauf hin, dass die Mutter von Noicho darüber verärgert wäre, wenn sie sähe, dass sie geschlagen wird. Mit diesem Hinweis benennt sie einen beeinflussenden Faktor. Die Beziehungen zu den Konfliktparteien verändern die Auslegung von Normen. Was bei einigen als normal gilt, wird bei Austausch der Parteien als normenverstoßend interpretiert.
Standbild Nr. 13: Yendite konfrontiert Noicho, was von dem Mädchen links im Bild und der hier nicht Sichtbaren Mutter des Mädchens unterstützt wird.
Eine der schwierigsten aber herausforderndsten Probleme ist die Unterteilung in die Kategorien eingebetteter und entbetteter Konflikt. Oben gezeigte Beispiele deuten darauf hin, dass eine solche Unterscheidung immer personengebunden stattfindet. Dies macht die Auswahl von Kriterien für eine Einteilung von Konflikten schwierig. Ab wann entspricht ein Konflikt nicht mehr den Normen? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn die Normen bezeichnet werden können. Sie verändern sich jedoch, wie oben gezeigt wurde. Eine Unterteilung in eingebettete und entbettete Konflikte ist somit immer situations- und personenabhängig.
Allen Beteiligten der Sequenz from conflict to fight war mit Sicherheit klar, dass sich der Kampf zwischen Ankoi und Willie jenseits der Normen abspielte. Am sinnvollsten ist die Einordnung als entbetteten Konfliktes darauf zurückzuführen, wie die Beteiligten den Verlauf einordnen. Ich will nun Hinweise auf die Einschätzung des Konfliktes Person für Person herauskristallisieren.
Yendite gibt ihrem Vater lautstarke Erklärung über den Verlauf des Konfliktes. Das ist ungewöhnlich. Alltägliche Interaktionen werden dem Vater nicht prinzipiell berichtet. Vielmehr wurden vor ihm Dinge bewusst nicht erwähnt. Der Vater gilt als absolute Autoritätsfigur. Seine Autorität wird nicht hinterfragt. Sie wird jedoch umgangen durch Aktivitäten, die nicht vor seinen Augen stattfinden. Dieses Umgehen wird von den Kindern der Familie kollektiv unterstützt. Auch die Ehefrauen tauschen sich Informationen mit ihren Kindern oder untereinander aus, die dem Vater aus strategischen Gründen nicht mitgeteilt werden. Nyabbanga ist sich bewusst, dass die Familie hin und wieder Dinge verheimlicht. Yendite ruft während dem Konflikt in der erwähnten Sequenz ihren Vater. Hierin sehe ich einen Verweis darauf, dass es in ihren Augen kein besseres Mittel gibt zur Lösung des Konfliktes gibt.
Es ist ungewöhnlich, dass Nyabbanga in einen Konflikt zwischen seinen Söhnen eingreift. Normalerweise lässt er seine Kinder damit allein. Häufig schmunzelte er mich an, als wir zusammen seine streitenden Kinder beobachteten. Seine klaren Äußerungen über die Entwicklung des Konfliktes, seine Verwunderung über die heutigen Ereignisse und das autoritäre Beenden sind direkte Ausdrücke seiner Einschätzung des Konfliktes als unnormales Ereignis.
Standbild Nr. 14: Der Vater beendet den Entbetteten Konflikt.
Ankois Tränen und Jammereien lassen sich ebenfalls direkt auf diese Einschätzung zurückführen. Die meisten Konflikte finden mit gemäßigtem Mienenspiel und emotionalen Ausdruck statt. Es sind kontrollierte wenn auch deutliche Ausdrucksformen. Tränenausbrüche sind Zeichen für intensive Formen der Konfliktaustragung. Sie sind jedoch mit zunehmendem Alter Ausdruck von Verlust über die Kontrolle des Konfliktverlaufes. Kinder bis ins Alter von Noicho weinten häufig. In einigen Sequenzen ist dies auch zu sehen. Ankoi wurde jedoch bei jedem Weinen darauf hingewiesen, das er sich beherrschen solle. Am Ende der Sequenz wundert sich sein Vater auch über dieses Verhalten. Sein Tränenausbruch zeigt, dass er den Konflikt als eskaliert empfindet.
Wenige Minuten zuvor zeigte Willie die gleiche Reaktion bei dem Konflikt zwischen ihm und seiner Mutter. Bei ihm ist diese Reaktion ein noch deutlicheres Zeichen für die Einschätzung des entbetteter Konfliktes.
Alle anderen im Film Siblings in Conflict sichtbaren Konflikte können als eingebettet bezeichnet werden, da die Mehrzahl der Teilnehmer keine Hinweise auf eine entbettete Einschätzung geben. In der Sequenz argument, blows & social consesus äußert sich Noicho dahingehend, dass Yendite unrechte Mittel einsetzt. Die restlichen Anwesenden verneinen jedoch eine derartige Einschätzung. Da an vielen Stellen in den meisten Sequenzen Hinweise für korrektes Verhalten gegeben werden, kann von einer kulturellen Normierung von Konfliktverläufen gesprochen werden.
Siblings in Conflict und die Produktivität These
Gesellschaften, welche Konflikte zulassen steigern die Produktivität des Konfliktes. Hier soll die These nicht im Allgemeinen betrachtet werden sondern für die Gesellschaft der Dassanetch: Die kulturellen Normen in Dassanetch fördern die Konfliktaustragung, wodurch Konflikte produktiv gehandhabt werden.Da diese These auf den zuvor gestellten aufbaut kann die Prüfung dieser auch als Zusammenfassung des zuvor Gesagten verstanden werden.
Die Einleitung in den Film, welche das Setting darstellt, stellt den Lebensraum in wenigen Bildern vor. In der Beschreibung des Dassanetchlandes habe ich bereits darauf hingewiesen, dass der Raum von einer gewissen Härte gekennzeichnet ist. Das Land ist trocken, es gibt wenig Vegetation, es ist heiß und es wehen Tag für Tag aggressive Staubteufel durch die Dörfer. Regen ist eine äußerst unvorhersehbare Erscheinung. Demzufolge wächst auch nur bedingt im Landesinneren Gras. Nahrung zu finden ist für die Ziegen eine permanente Suche. Die Hunde im Dorf verfolgen jede Äußerung der Bewohner und stürmen los sobald sie vermuten gerufen worden zu sein – oft umsonst. Dann stürzen meistens alle Hunde nach dem Objekt der Begierde. Nicht selten kommt es zu Keifen oder anderen Konfrontationen.
Auch die Menschen in Dassanetch wissen, dass Ressourcen saisonabhängig knapp sind. Abhängig von der Jahreszeit geben die Ziegen mal mehr und mal weniger Milch. Abhängig von der Erntezeit sind die Speicher mit Getreide gefüllt oder restlos entleert. Zugang zu Ressourcen führen regelmäßig zu unterschiedlichen Interessen. Zielgerichtete Konflikte sind zwangsläufig auf dem Tagesprogramm. In gewissen Situationen und zwischen bestimmten Personen finden diese Konflikte keine Ausdrückung sondern werden durch kulturell bedingte Normen umgangen. Nahrungsvorräte, die Kindern zugeteilt wurden, sind nicht für den Vater zugänglich und umgekehrt. Ebenso besteht zum Beispiel eine Grenze zwischen Gästen und Gastgebern. Im Umfeld, mit welchem Akteure am häufigsten interagieren, bestehen solche Grenzen jedoch auffallend selten. Kinder verbringen die meiste Zeit des Tages mit Kindern und nicht mit ihren Vätern. Männer verbringen den Alltag mit ihren Altersgenossen. Konflikte innerhalb diesen Gruppen, in denen die Mitglieder ähnliche Statuspositionen haben, sind kulturell institutionalisiert. In Dassanetch werden Konflikte zwischen den Personen welche die meiste Zeit des Tages miteinander verbringen als normengerechte Art der Interaktion verstanden. Dies betrifft auch alternbedingt weit auseinander stehende Personen. Nakwa und ihre Kinder gerieten zu unzähligen Anlässen aneinander. Fast bei jeder Verteilung von Mahlzeiten ereigneten sich Konfliktmomente zwischen ihnen.
Im Hinblick auf zuvor Gesagtes lassen sich nun die Vorteile der institutionalisierten Konfliktaustragung umreißen. Das Beobachten von Konfliktverhalten anderer Akteure führt in frühesten Jahren zum Erlernen der Austragung von Konflikten. Schon im Kleinstkindalter erproben sich Geschwister diesbezüglich untereinander. Durch Reiz- und Reaktionsgeneraliserungen entwickeln Kinder ein reiches Repertoire an möglichem Konfliktverhalten. Der Film Siblings in Conflict liefert Beispiele für dieses Erlernen. Zudem zeigt er, dass der kulturelle Raum diese Prozesse fördert.
Der Einzelne wie auch die Gemeinschaft erhalten von der Konfliktoffenheit in Dassanetch Vorteile. Ankoi profitiert davon, Yendite in der Sequenz siblings of different ages zu dem Befolgen der Regeln zu bringen. Er erhält dadurch höhere Chancen das Spiel zu gewinnen. Für Noicho ist es vorteilhaft, dass sie ihre Mutter stört, die ihrer jüngsten Tochter Milch gibt, weil sie dadurch selbst welche bekommt. Die Familie als Ganzes profitiert vom Zulassen des Konfliktes zwischen den Spezies: Indem Ankoi die Ziegen aus den Häusern vertreibt, werden die Nahrungsvorräte der Menschen geschützt. Durch Konflikten über die Arbeitsverteilung, werden Rollen ausgehandelt und gefestigt. Wiederum hat dies den Effekt, dass die Wirtschaftseinheit der Familie möglichst selten Zusammenbrüche oder Stöße erhält wie die in der Schlusssequenz sichtbaren entbetteten Konflikt. Indem Aufgabenverteilungen nicht statisch, sondern bis zu einem bestimmten Grad variierbar sind, wird dem Einzelnen ermöglicht, Unzufriedenheit abzubauen. Die Gefahr des unterdrückten Konfliktes wird umgangen oder zumindest reduziert.
Die bis hierhin genannten Erklärungen beschreiben vor allem die positive Auswirkung der Institutionalisierung von zielgerichteten Konflikten. Nun möchte ich meine Aufmerksamkeit den Auswirkungen von selbstmotivierenden Konflikten widmen. Sie sind in dem Film vor allem in dem Kapitel self generating conflicts zu finden. Welchen Vorteil bringt das minutenlange Abwarten und Gegenüberstehen der beiden Akteure in der Sequenz „testing determination“? Was bringt es Noicho und Arba Nech wenn sie in der Sequenz approaching limits ihre Köpfe aneinander schlagen? Ein Teil der Antwort auf diese Frage liefert erneut das Konzept der Reaktionsgeneralisierung.
Selbstmotivierende Konflikte, wie die beiden erwähnten, kann man meines Erachtens am fruchtvollsten als eine Übung ansehen. Die Akteure sammeln mit Konflikten, die nicht darauf ausgerichtet sind, ein konkret fassbares, materielles Ziel zu erreichen Erfahrungen. Sie lernen langfristig, sich durch Konflikte zu schützen und zu entwickeln. Die Ausdauer, die Ankoi und Arba Nech in der Sequenz testing determination gezeigt haben, pflegt sie auch. Das Erproben physischer Belastbarkeit in dem Konflikt approaching limits zeigt Noicho und Arba Nech ihre Grenzen aber auch ihre Möglichkeiten auf. Durch Konflikte, deren Ziel der Konflikt selbst ist, erweitern die Akteure ihr Spektrum an möglichen Mitteln. Ein erweitertes Spektrum an Verhalten in Konflikten bietet Aussicht auf erhöhtes Durchsetzten der individuellen Interessen.
Auch die Gemeinschaft profitiert dadurch, da man von einer Steigerung der Wettbewerbssubtilität sprechen kann. Erweitertes Repertoire an Möglichkeiten in Konfliktsituationen eines Mitgliedes führt zu einem Anreiz der Erweiterung des Anderen. Der Konkurrent beflügelt seinen Kontrahenten.
Die zuletzt genannten Erläuterungen schreiben dem selbstmotivierenden Konflikt vor allem langfristige Auswirkungen zu. Sie haben jedoch auch unmittelbare Auswirkung, die man als positiv ansehen kann. Die Aussicht auf Befriedigung von Spieltrieben und anderen Sehnsüchten bringt Akteure dazu, in selbstmotivierenden Konflikt miteinander zu treten. Ein weiterer Effekt ist, dass Zustände wie Langeweile umgangen werden. Kinder empfinden schlichtweg Freude an Aktivitäten und Proben.
Die These beinhaltet neben der Annahme, dass Konflikt Nutzen bringt, auch noch den Aspekt, dass die Institutionalisierung Vorteile bringt. Wie auch bei dem zielgerichteten Konflikt ist der Nutzen der Institutionalisierung des selbstmotivierenden Konfliktes die Legethematisierung dessen. Die Sequenz testing determination zeigt, wie die Mutter ganz in der Nähe verweilt als sich ihre Söhne mit Stöcken gegenüberstehen, bereit jede Sekunde auf einander einzuschlagen. Die Mutter unterbindet diesen Konflikt nicht. Kindern werden nicht von Konflikten (ob nun zielgerichtet oder nicht) abgehalten – solange bis diese Schaden verursachen. Besteht akute Gefahr von Verletzung so sind die Grenzen der Normen erreicht und Akteure höherer Stellung unterbinden den Konflikt. Der entbettete Konflikt wird beendet. Ein Beispiel ist Nyabbanga der am Ende der Sequenz from conflict to fight seine kämpfenden Söhne zum Aufhören fordert.
Dadurch dass in Dassanetch Konflikte kulturell akzeptiert sind, wird es den Vertretern legitim ermöglicht, ihre Interessen durch Mittel dessen zu erreichen. Konflikte werden regelmäßig unter Personen ausgetragen, die im Alltag miteinander interagieren. Kinder werden daran gewöhnt und erleben eingebettete Austragung als alltägliche Interaktion. Dadurch wird ermöglicht, dass alle genannten Vorteile wirksam werden können. Diese Vorteile laufen darauf hinaus, dass die Lebensqualität der Akteure gesteigert wird. Zum einen wird den Interessen nachgegangen und zum anderen wird das destruktive Potenzial von Konflikten minimiert. Durch allgemeine Akzeptanz von eingebetteten Konflikten werden institutionalisierte konfliktreiche Interaktionen als normal empfunden. Negative Auswirkungen in Form von Beleidigung, Verletzung oder Minderwertigkeitsgefühle finden durch die Normierung von Konflikten wenig Nährboden. Durch die Gewöhnung an Konflikte wird aber auch das Vorhandensein von Auslösern, wie z. B. Nahrungsknappheit, in den Alltag integriert und thematisiert. Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit diesen Konfliktauslösern. Das Einbetten entspricht somit den Eigenschaften des Alltags in dem Lebensraum.
Eine weitere positive Auswirkung der Einbettung scheint der Effekt der Katharsis zu sein. Obwohl schwer zu überprüfen, so liegt die Vermutung nah, dass das alltägliche Ausüben von Konflikten das Streben nach Erfüllen von individuellen Interessen befriedigt. Durch institutionalisiertes Konfliktverhalten sehnen sich die Akteure vermutlich weniger nach entbetteten Konfliktaustragungen. Das Ausüben senkt somit die Häufigkeit entbetterer Konflikte, die vermehrt destruktive Auswirkungen mit sich bringen. Konfliktaustragungen werden gezähmt, was das gemeinschaftliche Zusammenleben befriedet.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel habe ich die acht Thesen, welche im konflikttheoretischen Teil dargestellt wurden anhand des Filmes Siblings in Conflict geprüft. Für die meisten Thesen liefert der Film Bestätigungen und Veranschaulichungen. Einige habe ich umformuliert und neue Aspekte vorgeschlagen. Ziel war es anhand von Beobachtungen (vor Ort und im Film) bestimmte Eigenschaften von Konfliktverhalten in Dassanetch zu benennen und zu erklären. Dies beinhaltete sowohl das Beschreiben von normalen Abläufen von Konflikten und Verweise auf kulturelle Normen diese beeinflussen als auch Erklärungen über Auswirkungen der Normen auf Konflikte die Akteure und die Gemeinschaft. Ausgehend von Verhaltensbeobachtungen in meiner Gastfamilie, die teilweise durch den FilmSiblings in Conflict dokumentiert sind, habe ich konkretes Verhalten erklärt und daraus dann kulturelle Normen verdeutlicht.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Konflikte in Dassanetch alltägliche Formen der Interaktion zwischen Akteuren sind, die eine enge Beziehung zueinander haben. Je distanzierter die Beziehungen zwischen zwei Akteuren sind, desto weniger sind offene Konflikte institutionalisiert. Bei weniger nahe stehenden Personen werden gegensätzliche Interessen durch andere kulturelle Normen entschieden wie z. B. Rolle und Status der Konfliktparteien und sich daraus ergebende Hierarchien. Personen, die im Alltag häufig miteinander agieren greifen oft auf das Mittel Konflikt zurück was von den Mitgliedern der Gruppe grundsätzlich toleriert wird. Von früh an werden Kinder an das Austragen von Konflikten gewöhnt. Die Abläufe werden mit zunehmendem Alter mehr und mehr formalisiert. Konfliktaustragungen werden solange akzeptiert und motiviert bis der Konflikt in den entbetteten Zustand übergeht, er nicht mehr den Normen folgt. Dann schließen sich Aktionen an, die darauf ausgerichtet sind, die Entgleisung zu beenden oder im Zaum zu halten. Die Einbettung von Konflikten in die Vorstellung vom alltäglichen Umgang miteinander und die daraus resultierende Häufigkeit von Konfliktaustragungen hat produktive Auswirkungen auf die Gemeinschaft und den Einzelnen. Interessen werden legitim geäußert und vertreten. Durch eingebettete Konflikte können Akteure ihre Rechte wahrnehmen und sie erweitern. In diesem Sinn ist die Institutionalisierung von Konflikten in Dassanetch ein Verweis auf demokratische Aspekte der Gesellschaftsorganisation.
Schlussworte
Am Ende der einzelnen Kapitel habe ich bereits Zusammenfassungen der inhaltlichen Darstellungen geliefert. An dieser Stelle möchte ich daher nur die Nutzung zweier Medien zusammenfassen. Mittels der Medien Film und Text habe ich alltägliche Konfliktsituationen in Dassanetch bebildert und beschrieben. Die Kombination der beiden Medien ermöglichte die Vorteile des bewegten Bildes sowie des geschriebenen Wortes auszunutzen. Die herausragende Qualität des Filmes ist die Veranschaulichung von Beobachtungen. Der Film Siblings in Conflict zeigt eine Auswahl an Konfliktmomenten, wie ich sie vor Ort beobachten konnte. Teilweise konnte ich auch bei der Sichtung des Materials Aspekte finden, die sich vor Ort meiner Wahrnehmung entzogen haben. Eine weitere Qualität des Filmes ist es, dass die Filmarbeit im Allgemeinen verständlicher für die Akteure des Filmes sind. Durch das Sichten des Filmes Doors Wide Open erhielten die Akteure ein genaues Verständnis von den Endprodukten meiner Arbeit. Zudem verleiht der Film den Akteuren stärker die Möglichkeit selbst zu Wort zu kommen, als dies im geschriebenen Wort je der Fall sein wird.
Die herausragende Qualität des geschriebenen Textes ist die Darstellung von analytischen nicht visuellen Gedankengängen. In dem Text habe ich eine Auswahl von konflikttheoretischen Überlegungen aus der Fachliteratur benutzt um das im Film Sichtbare einzuordnen. Ein Resultat dieser intermedialen Darstellung ist, dass die Bedeutung der Bilder durch die textliche Darstellung herausgearbeitet wird. Ein anderes Resultat ist, dass die textlichen Erläuterungen durch den Film verständlicher werden. Die Kombination der beiden Medien stellt eine Bereicherung für beide Wege der Darstellung dar. Nicht nur die Endprodukte bereichern sich gegenseitig, sondern auch in der Entstehungsphase beeinflusste die Produktion des einen Werkes die Entwicklung des anderen. Die Thematik des Filmes entwickelte sich aus einer Selektion der Ereignisse. Während der Feldforschung suchte ich Aktionen, die filmisch attraktiv darstellbar sind. Dies waren vor allem visuell ausdrucksstarke Handlungen. Primär verbale Interaktionen interessierten mich weniger. Dies ist zum einen auf meine mangelnde Fähigkeit der tiefgehenden Kommunikation zurückzuführen. Vor allem ist dies aber durch die Visualität des filmischen Bildes zu erklären. Der Inhalt des Textes beruht auf der Thematik des Filmes. Das Verfassen des theoretischen Teiles des Textes beeinflusste jedoch fundamental die Form des Filmes. Das Studium der Konflikttheorie schuf den Rahmen für beide Darstellung, sowohl die schriftliche als auch die filmische. Offensichtlich wird dies vor allem bei der Gliederung des Filmes. Die Struktur des Filmes ist stark an der theoretischen Darstellung angelehnt. Einordnungen in zielgerichtete und selbstgenerierende Konflikte entstanden parallel zu der Erstellung des Textes. Die acht konflikttheoretischen Thesen wurden vor dem Hintergrund des Filmmaterials ausgesucht. Die Sammlung der Thesen sowie die Darstellung der verschiedenen Konzepte beeinflusste meine Vorstellung von dem filmischen Endprodukt. Durch das Studium der Konflikttheorie hielt ich es für notwendig einige Sequenzen in den Film zu integrieren, die in früheren Schnittfassungen nicht integriert waren. Andere Aspekte fielen raus, da sie im theoretischen Rahmen eine doppelte Veranschaulichung waren. Kurzum: der Film sähe ohne den Text anders aus, als Endprodukt.
Meiner Meinung nach ist die Multimedialität also sowohl für die Produktion förderlich als für bei der Rezeption. Der Rezipient bekommt ein anschaulicheres und verständlicheres Bild von der Thematik wenn sowohl Film als auch Text zu der Vermittlung benutzt werden. Dies gilt aller Wahrscheinlichkeit nicht nur für vorliegendes Projekt sondern trifft für alle Thematiken und Richtungen zu. Der Filmemacher und Schreiber profitiert von der Nutzung beider Medien da er sich auf unterschiedlicher Weise der Sache annimmt. Dieses erlangte differenzierte Verständnis ist dann an den Rezipienten über die beiden Medien vermittelbar. Man könnte das Spiel weiter fortsetzen, und noch weitere Medien benutzen. Tonaufnahmen oder Malerei zum Beispiel könnten weitere Aspekte der Thematik betonen. Ich habe in diesem Projekt die Medien Film und Text ausgewählt, da sich die beschriebenen Qualitäten dieser Medien fruchtvoll ergänzen.
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